23. Februar 2014

Goodbye, Carmen

Danke, Mama.

Ich stehe vor meinem Spiegel, dem großen im Flur, und frage mich mal wieder, wie meine Mutter auf die absurde Idee gekommen ist, mich Fee zu nennen. Hatte sie noch nie von Genetik und Vererbung gehört? Wenn sie sich selbst und vor allem meinen Vater genauer betrachtet hätte, dann wäre ihr klar geworden, dass die Frucht ihrer Liebe niemals feengleich aussehen würde. Ich komme nach meinem Vater – also mehr Kriemhild als Fee. Fee Kötter. Ich bitte Sie! Danke, Mama. Vielen Dank auch.

Mit viel Wohlwollen gehe ich als Veronica Ferres für Arme durch, und zwar die Ferres in „Schtonk“ oder „Rossini“, nicht die dünne, die sich an den Checkpoint Charlie kettet. Carmen, meine beste Freundin seit der Grundschulzeit, sah auch nicht aus wie eine Carmen. Sie war blond und blauäugig. Bildhübsch. Mit ihren Perlenzähnchen und den Locken bezauberte sie alle um sich herum. Ich wollte immer so sein wie sie. Jetzt nicht mehr. Carmen ist tot.

Ich erreiche den Friedhof sehr spät. Der Taxifahrer hat mich am Eingang abgesetzt. Schnellen Schrittes gehe ich den Kiesweg zur Kapelle hinauf. Ich will mich am liebsten hinten in die letzte Reihe stellen, damit mich keiner bemerkt. Natürlich knarrt die Tür, als ich zur Trauer feier hinzustoße, und alle drehen sich um. Auftritt Fee Kötter. Frau Leander, Carmens Mutter, putzt sich gerade die Nase und winkt mich zu sich. Ich soll mich neben sie in die erste Bankreihe setzen. Fest, ganz fest drückt sie mit ihren kleinen, weißbläulich schimmernden Fingern meine Hand. Zum Glück muss ich ihr nicht in die Augen schauen. Der Organist beginnt zu spielen, nach den ersten Tönen denke ich: „Bitte nicht. Bitte nicht ‚Time To Say Goodbye‘!“ Diese Arie scheint mir genauso überstrapaziert wie milde Saint-Exupéry-Zitate in Todesanzeigen. Frau Leander liebt das kleinbürgerliche Drama. Andrea Bocelli muss sein. Fast möchte ich lachen.

Die Predigt zieht an mir vorbei. Pfarrer Hohmann hatte uns damals konfirmiert. Er kennt die Familie seit Jahrzehnten, und er leidet mit ihr. Sein Sohn Thomas steht rechts hinter mir. Fett ist der geworden. Seine Frau und die drei Kinder haben ihn begleitet. In Thomas war ich mit dreizehn sehr verliebt gewesen. Er konnte Gitarre spielen. Wenn Jungs Gitarre spielen konnten, dann war das schon der halbe Weg zum Herzen und unter den Pulli eines Mädchens. Ich liebte Thomas, und Thomas liebte Carmen. Wir saßen zu dritt auf der Bank vor dem Freibad, und die beiden knutschten und kicherten. Nach der Predigt wird der Sarg von Mitgliedern des Gemeinderats vor den Trauernden her getragen. Carmens Mann war Bürgermeister. Pardon, ist Bürgermeister. Er lebt ja noch. Karsten hält Celine, die 14-jährige Tochter, fest an sich gedrückt. Ich lasse mich zurückfallen, damit ich nicht neben Frau Leander stehen muss, wenn der Sarg in das Erdloch hinabgelassen wird. Ich gehöre nicht zur Familie. „Andrea Bocelli. Gruselig, oder?“ Neben mir schlendert im lässigen schwarzen Trenchcoat Kornelia Jahn den Kiesweg hinunter. Eine Schulkameradin, keine enge Freundin. Und immer Kornelia, nie Konnie. Immerhin, sie hat inzwischen einen Doktortitel und mit ihrer Frau eine Eigentumswohnung in der Kölner Südstadt. „Mal ehrlich, wer will denn noch ‚Time To Say Goodbye‘ auf einer Beerdigung hören?“ Als ich weiterlaufen will, bleibt Kornelia stehen und hält mich am Ärmel meines Mantels fest. „Fee, du konntest sie doch auch nie leiden. Das neulich auf dem Klassentreffen, das tut mir leid.“

Mensch, wieso erwähnt sie ausgerechnet jetzt das Klassentreffen? Dieses Scheiß-Klassentreffen. Dieses drecksblöde Klassentreffen, zu dem ich eigentlich nicht hatte gehen wollen. 25 Jahre Abi. Hurra. Feierlichkeit in der Schulaula. Was sollte ich dort? Mir anhören, welche Instrumente die Wunderblagen meiner ehemaligen Klassenkameradinnen spielten, wie viel Kohle die Ehemänner nach Hause schleppten, welcher Stadtteil gerade trendy zu werden drohte oder welches Gratin-Rezept zwar von den Weight Watchers, aber trotzdem total lecker war?

Natürlich ging ich hin. Carmen hatte mich überredet. „Das wird super, wirste sehen. Vielleicht kommt Thomas auch“, neckte sie mich. Als ich auf der Tanzfläche Markus Pape seine ewig gleiche Choreografie auf „Centerfold“ hüpfen sah, benötigte ich eine Toilettenpause. Alle Kabinen auf dem Mädchenklo waren besetzt. Ich stand davor, wartete, starrte in den Spiegel über dem Waschbecken und sendete wieder einen zynischen Dank an meine Mutter. Fee Kötter. Also wirklich. Aus der rechten Kabine kicherte es betrunken. „Kornelia, kannste mir das Papier rübergeben? Hier is’ keins mehr.“ Eine Toilettenrolle wurde unter der Trennwand weitergereicht. Aus der linken Kabine fragte es:
„Was ist denn mit Fee, ist die eigentlich verheiratet?“

„Uuuh, gaaanz schlechtes Thema. Ihr Freund hat sie gerade verlassen. Die ist so was von schlecht drauf.“

„Das tut mir leid. War sie überhaupt jemals verheiratet?“

„Nö. Die war doch ewig mit diesem Chris zusammen, den hat sie schon in der Lehre kennengelernt. Kam aus ’nem ganz ander’n Stall als sie. Nix gegen Fees Eltern, die Kötters sind okay. Sie ist halt ’ne brave Hausfrau, und Fees Vater hängt mit siebzig immer noch in seiner ollen Kfz-Werkstatt rum. Meine Mutter meinte mal, der ist gar nicht Fees richtiger Vater, ging damals im Dorf rum die Geschichte, dass die nicht seine Tochter ist. Soll irgendein Monteur gewesen sein, der den Staudamm mitgebaut hat. Andererseits sehen sich Fee und ihr Vater doch total ähnlich. Sie is’ ja nich’ gerade ’ne Elfe. Für die Fehlgeburten kann se ja nix. Vielleicht hätte ihr Freund sie geheiratet, wenn das mit den Kindern geklappt hätte. Die Arme. Später hat se sich noch mehr gehen lassen. Ich meine, kein Wunder, dass Chris sich in seine Kollegin verknallt hat. Uuups, so was sollte ich als ihre beste Freundin wohl nicht sagen.“ 


Carmen kicherte. Sie schloss umständlich die Klotür auf und wankte zum Waschbecken. Fast gleichzeitig kam Kornelia von der Toilette. Sie war es, die mich als Erste sah. Ich hielt mich am Heizungsrohr im Vorraum fest. Sie und Carmen sagten zunächst nichts und blickten verlegen auf den Boden. Dann seufzte meine beste Freundin, sah mich an und meinte trotzig: „Man wird ja wohl die Wahrheit laut aussprechen dürfen! Nun sei nicht sauer. Okaaaaay?“ Ich hasse dieses unnatürlich lang gezogene Okaaaaay, das sich anhörte, als sei jemand nach zehnjährigem USA -Aufenthalt wieder nach Deutschland zurückgekehrt. 

Flashback ins Jahr 1978. Papa und ich beim sonntäglichen Frühschoppen in der „Försterstube“. Papa mit halbrund gesoffenem Deckel und ich auf einem Barhocker daneben, mit Fanta und rotbraun gebrannten Erdnüssen, die ich mir jedes Mal für 20 Pfennig aus dem Automaten ziehen darf. Die Musikbox spielt „Living next door to Alice“, und mein Vater summt fröhlich mit. Manchmal darf Carmen mit zum Stammtisch. Papa kann sie herrlich aufziehen. „Wie kann ein blondes Mädchen wie du nur Carmen heißen? Erklär mir das mal einer.“ Carmen schmollt. Wenn Kalle, unser Nachbar, wieder über seine untreue Frau jammert, hat Papa stets dieselbe hervorragende Idee zur Problemlösung. „Wenn die nich’ aufhört, dich zu verarschen, dann schneideste einfach die Bremsleitungen von ihrem Kadett durch. Hier gibbet ja so viele Marder.“ Dann grinst er und bestellt. „Zwei Pils für mich und meinen Freund Kalle, der viel zu gut is’ für diese Welt.“

Mein Vater war für mich immer der Größte. Ich besuchte ihn in seiner kleinen Werkstatt, wo er im ölverschmierten Blaumann auf einem Rollbrett unter einem Auto lag. Er ließ mich Cola trinken, wenn Mama nicht guckte, und sagte: „Fee Kötter? Das ist doch ’n Witz.“ Selbst er begriff, dass mein Vorname weder zu meinem Nachnamen noch zu meiner Person passte. Papa war es auch, der mich anrief und mir vorsichtig mitteilte, dass Carmen tot ist. „Heute früh um drei. Unfall in der steilen Kurve, da hinten beim Sägewerk.“ Überhöhte Geschwindigkeit, ganz bestimmt, meinte mein Vater. Das Auto hätte doch auch viel zu viele PS gehabt. Komischerweise keine Bremsspuren. Ob ich denn nicht gestern nach dem Klassentreffen mit ihr nach Hause gefahren sei. „Nee, Papa. Ich bin doch zu Fuß gegangen. Brauchte frische Luft. Carmen ist allein gefahren.“

Mein Vater ist für mich noch immer der Größte. Er hat mich früher Cola trinken lassen, wenn Mama nicht guckte. Und er hat mir alles über Autos erklärt, was man wissen muss. 


Danke, Papa.




Mit diesem Text nahm ich am Literatur-Wettbewerb der Zeitschrift MAXI teil und gewann doch glatt den 1. Preis, ein tolles Wochenende in Berlin, bei dem ich unter anderem mit Schauspieler und Romanautor Oliver Wnuk zu Mittag aß.