11. Dezember 2016

Toiletten-Jesus



Sonntagnachmittag auf dem Weihnachtsmarkt einer westdeutschen Großstadt.

Frau Meyer ist mit ihrer Freundin Frau Hanselmann mit dem Zug angereist, wohl wissend, dass es hier keine freien Parkplätze in der Nähe des bunten Treibens geben wird.

Der Regional-Express spuckt die Weihnachtsmarktbesucher aus, die direkt weiter ins Zentrum und zu den Buden ziehen. Es sind die üblichen Düfte, die einem eben nur zu dieser Jahreszeit in dieser Mischung in deutschen Städten in die Nase steigen. Anisbonbons, gebrannte Mandeln, Bratwürste, Glühwein. Wir bummeln in gemütlichem Tempo, schauen hier und da und gucken, was wir unbedingt kaufen müssen.

Wir fragen uns, wer unbedingt dieses Mitbringsel für seine Begleitung oder seine(n) Liebe(n) zuhause kauft?


Gibt es irgend jemanden, dem diese drüschen Lebkuchenherzen mit dem bröseligen Zuckerguss schmecken und würde sich überhaupt jemand über den Kosenamen Sexmaschine freuen? Dies stelle ich gern meinen Leserinnen und Lesern zur Diskussion. :-)


Es wird dunkel. Die Lichterdeko an den Geschäften, den Marktständen und den Bäumen funkeln bunt, besonders schön leuchtet das Herz auf dem Riesenrad. Ich liebe Kitsch!



Hunger. Nachdem wir mehrere Imbisse im Vorbeigehen inspiziert haben, entscheiden wir uns für eine Bratwurst. Die ist wirklich lecker gewürzt. Jetzt etwas trinken. Frau Hanselmann nimmt eine Cola, weil sie gleich noch fahren muss. Ich entscheide mich für weißen Glühwein. Und noch einen. Dass später unsere Gesichtsfarbe ins Grünliche changiert, hat kein bisschen mit der Qualität von Speisen und Getränken zu tun.



Nach ein paar Stunden auf dem Weihnachtsmarkt sind wir satt und zufrieden und mit ein paar Geschenken für uns selbst eingedeckt. Ab nach Hause!

Unser Zug fährt gleich. Den Zustand der meisten Nah verkehrszugtoiletten im Hinterkopf, steuern wir vorsichtshalber das Bezahlklo im Hauptbahnhof an. Frauen gehen gern vorsichtshalber aufs Klo. Aber das wissen Sie sicher. Sie sind sogar bereit für ein halbwegs reinliches Umfeld den Wahnsinnspreis von einem Euro zu bezahlen. Man bekommt ja einen Gutschein in Höhe von fünfzig Cent zurück, den man in einigen Geschäften am Bahnhof ab einem Mindestverzehr von zwei Euro fünfzig einlösen. Mit diesen Gutscheinen kann ich mittlerweile meinen Flur tapezieren.

Wir gehen also hinunter zum Bezahlklo, da sehen wir schon die Schlange. Interessanterweise auch vor dem Herren-WC, das übrigens nur fünfzig Cent Eintritt kostet. Vielleicht lag es am günstigeren Preis, dass eine Frau dort ein Ticket gelöst hat. Versehentlich. Ihre Freundinnen stehen auf der Frauenseite und diskutieren. Die Frau, die sich vertan hat, muss mal, will und kann aber nicht bei den Männern. Die Herren, die hinter ihr eine mit Schlange mit gefüllter Blase bilden, werden unruhig. Der Mann direkt hinter ihr verlagert sein Gewicht von einem Bein auf das andere und zurück. Die Begleiterinnen warten vor dem Damen-WC, da geht es also auch nicht weiter. Eine hat eine Idee und spricht den unruhigen Mann an, der anfängt zu moppern. Ob es denn nicht mal endlich voran gehe.


"Geben Sie meiner Freundin doch die fünfzig Cent und gehen Sie dann durch."

Dem Mann ist das Blut aus dem Hirn irgendwo anders hin gerutscht. Er kapiert nur Bahnhof.

"Na klar. Sie schmeißen das Geld in den falschen Automaten und ich soll Ihnen das wiedergeben."

"Ja", sagt die Falschbezahlerin, "aber Sie müssten doch sowieso zahlen."

"Ja", rufe ich, weil ich mich gern einmische, vor allem dann, wenn sich dadurch auch meine Situation verbessert, "Sie müssten die fünfzig Cent doch eh zahlen."

Auch die Freundinnen reden mit glühweingetränkten Stimmen auf den Mann ein.

Es erscheint die Klofrau, die eigentlich ein Mann von wohl südosteuropäischer oder arabischer Herkunft ist und fragt, was denn hier los sei. Ziemlich laut fragt er das. Inzwischen entsteht ein kleiner Tumult auf der Herrenseite des Bezahlklos. Der Mann, dem sein eigener Urin inzwischen in den Augen steht, rückt erst die fünfzig Cent raus, nachdem ihm seine Geschlechtsgenossen aus der Schlange versichert haben, dass er hier nicht gnadenlos über den Tisch gezogen wird.

Es geht vorwärts.


Der Klowart lässt einen für mich fast schon als historisch zu bewertenden Satz los:

"Ihr Frauen seid alle Bestien!"

Jetzt wird die Damenschlange unruhig.

"Wie bitte?"

"Was haben Sie da gesagt?"

Und ich so: "Das ist ja wohl ein Scherz. Die, die gemeckert haben, waren die Herren hier nebenan. Und der eine hat nicht kapiert, dass er auch zahlen muss. Ach so, wieso zahlen die Männer eigentlich nur fünfzig Cent?" (Habe keine Zeit für diese Diskussion, der Zug fährt gleich und ich verlagere inzwischen auch mein Gewicht von einem Bein auf das andere)

"Ihr Frauen seid wirklich alle Bestien! Das hat meine Mama mir schon gesagt, als ich noch ein kleiner Junge war. Dass ihr Frauen alle Bestien seid!"

Der Klomann rennt auf und ab, als müsste er selbst mal dringend. Dabei steht er auf der Innenseite.

Nun würde ich die Mutti vom Klomann gern zur Rede stellen, ihr sagen, dass sie keinen wirklich glücklichen Beitrag zum Miteinander von Mann und Frau und auch zum Miteinander von Deutschen und Einwanderern geleistet hat. Leider ist sie gerade nicht hier, sondern macht wahrscheinlich etwas Sinnvolles. Putzen, kochen oder ihrem Mann die Füße.

Endlich geht es voran. Frau Hanselmann und ich dürfen durch die Schranke zu den WCs gehen. Als wir den Toilettenwart passieren, ruft er: "Ich bin der Toiletten-Jesus. Ich bin hier der Toiletten-Jesus." Ob es sich um eine plötzliche Erleuchtung oder eine Machtdemonstration des Herrn im weißen Kittel handelt, vermag ich nicht zu sagen.

Ich bin, was selten vorkommt, sprachlos, verspüre jedoch, während ich die Klobrille mit diesem Desinfektionszeug abwiener, einen als Lachkrampf einzuordnendes Beben in der Zwerchfellgegend.

Vielleicht ist in den Reinigungsmitteln doch irgend etwas drin und auf den Flaschen steht ein mit einem Totenkopf gekennzeichneter Hinweis:

"Das Einatmen der Dämpfe, die dieser Flüssigkeit entsteigen, führt unweigerlich zu Größenwahn."

Auf der Rückfahrt bin ich höchst zufrieden mit dem Weihnachtsmarkt-Erlebnis. Die Frau Hanselmann auch. Düfte, Lichter, Bratwurst, Glühwein, selbstgekaufte Gewürze. Und ein durchgeknallter Jesus auf dem Bezahlklo.

Es ist immer gut, wenn etwas Unerwartetes passiert.

Worüber sollte ich sonst schreiben?

:-)