Am Samstagmorgen um 08:21 Uhr gibt es noch einige freie Plätze im NRW-Express nach Paderborn. Eine Vierersitzkombination steht ganz für mich allein zur Verfügung. Hurra, ich setze mich ans Fenster und freue mich auf eine ruhige Fahrt.
Ein naiver Trugschluss. Ich hätte es besser wissen müssen, denn natürlich steigen schon am Flughafen Düsseldorf jede Menge Leute ein. Und in Duisburg erst.
Da ist es vorbei mit der morgendlichen Idylle, der Großraumwagen füllt sich. Ein besonders kleiner Inder setzt sich neben mich an den Gang. Dann folgen zwei junge, für einen Samstagmorgen sehr aufwendig gestylte Damen mit sehr viel Gepäck. Da es kaum Stauraum gibt und in das Fach über unseren Sitzen nur Jacken und winzige Einkaufstüten passen, verteilen sie ihre Reisetaschen unter ihrem Sitz und zwischen ihren Beinen. Auch eine Frau, deren Beinlänge nicht der von Ex-Topmodel Nadja Auermann gleichkommt, gerät unwillkürlich in eine ungewohnte Sitzhaltung, die der eines Affen auf einem Schleifstein entspricht. Sogar der ca. 1,52 m kleine Mann rechts neben mir muss eine neue Position einnehmen. Weil seine Füßchen auf dem Boden keinen Platz mehr finden (da steht ein Karton mit der Aufschrift ESPRIT), setzt er sich schräg, Beinchen in den Gang, Popöchen auf meinen Sitz, also mehr so auf meinem Schoß.
Habe ich Ihnen schon erzählt, dass ich mit zunehmendem Alter verstärkt unter Klaustrophobie leide? Leider gibt es gerade keine Ausweichmöglichkeit, der ganze Wagen ist voll.
Ich versuche, den Frauen Anfang zwanzig einen strengen Blick zuzuwerfen, denn ich mache immer mehr Zugeständnisse, was die Bequemlichkeit angeht, dabei bin ich die größte (und vermutlich auch schwerste) Person in dieser Viererkonstellation. Und überhaupt: Ich saß ZUERST hier!
Innerlich grummele ich über den zunehmenden Egoismus in unserer Gesellschaft. Nimmt denn niemand mehr Rücksicht auf den anderen? Die Pumps der Frau gegenüber machen es sich auf meinen Boots bequem. Die stark geschminkte und mit dem Glätteisen bearbeitete Dame interessiert sich nicht für mich und mein Wohlbefinden, sie hat mit ihrer Freundin etwas Wichtiges zu bereden.
"Deine Nägel sehen total schön aus!" ruft sie begeistert. Meine Neugier zwingt mich kurz herüberzuschielen, und ich schaue auf künstliche Fingernägel, die mit unterschiedlichen Mustern und Farben bepinselt sind. "Nee, ich bin total nicht zufrieden. Ich habe der gesagt, dass ich mehr gold drauf haben will." Ich blicke kurz auf meine Nägel, die normalerweise hübsch aussehen und in natürlichen Rosétönen lackiert sind. Gestern habe ich aber mit Scheuermittel und ohne Handschuhe das Bad geputzt. Naja.
Ich versuche mich, auf den Inhalt des von mir sehr geschätzten Bahnmagazins mobil zu konzentrieren, was mir erstens nicht gelingt, weil ich vom Titel mit Florian David Fitz davon abgehalten werde, die Zeitschrift überhaupt erst zu öffnen.
Was genau ist hier mit "alles" gemeint? |
Zweitens muss ich mir die Mädchen, die mir gegenüber sitzen, genauer begucken. Sie tragen ihr Haar perfekt frisiert, beide ein professionelles Make Up, sehr enge und kurze Röcke und figurbetonende Blusen. Die aus meiner Sicht attraktivere von beiden hat kilometerlange Wimpern, die sogar echt sind oder aus Nerz, ein bildhübsches Gesicht und sehr stramme Oberschenkel, das kennt man ja. Fast bin ich geneigt, meiner Kommentiersucht zu frönen und etwas wie "Holla, Sie trauen sich was!" von mir zu geben. Stattdessen schaue ich auf meine Oberschenkel, die ebenfalls stramm in einer uralten Jeans stecken, und lausche einem Dialog aufstrebender Karrierefrauen, denen ihre Optik nicht einerlei ist.
"Wenn ich gewusst hätte, dass ich dieses Kleid anziehe, hätte ich meine schönen Ohrringe getragen." Zwischendurch reden sie türkisch. Leider. Wenn sich die beiden schon so breit machen und den Inder zwingen, sich quasi auf meinen Schoß zu setzen, dann darf ich wohl erwarten, dass ihr Dialog in meiner Muttersprache geführt wird. Oder meinetwegen ganz auf türkisch. Dann würde ich mein Bahnmagazin lesen, den Florian David vollsabbern und fertig.
Die jungen Frauen reden über ihre jeweilige Arbeit. Ich höre Storemanager und KPMG, es wird über Jahresgehälter direkt nach dem Studium diskutiert (Bachelor 32.000 Euro, Master 42.000 Euro) und wie lächerlich wenig das ist. Eine Kollegin ist doof, eine Chefin lässt einen jedes Wochenende arbeiten, dann wird wieder türkisch gequasselt. Das Mädchen, das die schönen Ohrringe getragen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass sie dieses Kleid anzieht, tuscht sich die Wimpern, wobei sie ihr Iphone als Spiegel nutzt, und zieht sich den Lippenstift nach. "Zeig mal, ist der von Mäc?" Es geht immer noch um den Lippenstift, liebe Herren, nicht um das Notebook von Apple. "Der ist toll! Komm, wir machen Selfies." Beide machen Knutschmünder und knipsen sich.
"Mädels, Duckfaces sind out!" hätte ich nun gern eingeworfen. Das habe ich neulich in irgendeiner Zeitschrift beim Friseur gelesen. Der neue Trend heißt Faux-Surprised, wobei die sich selbst fotografierende Person den Mund freudig-überrascht öffnet, als hätte sie gerade erfahren, dass sie für den OSCAR nominiert ist. Ich sage das natürlich nicht. Ich bringe mir nämlich gerade selber bei, mich nicht überall einzumischen und nicht alles zu kommentieren.
Auch beim nächsten Thema halte ich mich zurück. Nachdem einige Selfies als nicht versandtauglich beurteilt wurden ("iihh, guck mal, wie ich hier gucke, du siehst gut aus, aber ich, voll bescheuert"), wird nun über eine weitere Freundin geredet. Halb auf türkisch, halb auf deutsch. Ich verstehe nur Louis Vuitton.
Freundin 1 regt sich auf. "Wie kann die sich nur diese Tasche kaufen? Ich kann diese Tasche nicht ernst nehmen!"
Manchmal glaube ich, ich bin ein Mann.
Ich kann die Hysterie um Handtaschen nicht verstehen.
Die muss gut aussehen und strapazierfähig sein. So.
Würde ich gern sagen, mach ich aber nicht.
Der kleine Inder steigt in Dortmund aus und Freundin 2 setzt sich neben mich, springt aber für weitere Selfie-Versuche immer wieder rüber. Das Gewicht von Freundin 1 ruht nun ganz auf meinen Füßen. Ich schnaufe ein wenig und ziehe meine Füße unter ihren weg. Dass Freundin 2 neben mir sitzt, ist doof, weil ich nun nicht mehr auf der Rückseite der mobil Gesprächsnotizen machen kann, die ich für einen Blogtext verwenden will. Eventuell liest der Feind mit.
Es geht um Reisen über Weihnachten. Auf jeden Fall in die Sonne, auf jeden Fall in die Ferne.
Thailand, oh ja Thailand.
Oder Mauritius, da war der XY.
Sehr gern auch Vietnam oder besser noch Bali.
Ich kneife sehr fest die Lippen zusammen. Ich sag nicht, dass unser Winter nicht die beste Reisezeit für Bali ist und dass man auf Mauritius einen wunderbaren Zyklon erleben kann. Dann merken die Frauen gleich, dass ich sie belauscht habe. Und obwohl ihnen das vermutlich total egal ist, mir wäre es peinlich.
Erleichtert bemerke ich, dass eine Zweierreihe gegenüber frei wird.
"Entschuldigung, ich sehe gerade, dass da drüben ein Platz frei geworden ist", erkläre ich den Mädchen, "ich muss nur kurz an meine Tasche und meine Jacke und gehe dann rüber."
"Haben wir Sie genervt?" fragt das Mädchen mit den strammen Schenkeln.
"Aber wie!" sage ich.
Also ich sage das wieder nur in meinem Kopf. Tatsächlich erkläre ich:
"Nein, aber dann haben Sie mehr Platz und ich auch. Da hätten wir alle was davon."
Ganz toll, Frau Meyer, immer schön in die Defensive.
Auf dem Zweiersitz strecke ich erst einmal meine Beine aus.
Und dann sind wir schon in Soest.
Und dann muss ich superdringend aufs Klo.
Packe alle meine Sachen zusammen und suche das nächste WC auf.
Es ist geschlossen wegen eines Defektes.
Ich gehe in den nächsten Wagon und dort Richtung WC.
Es ist geschlossen wegen eines Defektes.
Im nächsten Wagen auch.
Im übernächsten frage ich einen Zugbegleiter, ob alle WCs defekt seien.
"Nein, eines funktioniert noch, Das ganz vorn hinter der Lok."
Er zeigt in die Richtung, aus der ich gerade komme.
Ich eile durch alle Wagons und erreiche die einzige Zugtoilette, an der kein gelber Zettel mit "Defekt" klebt. Sie ist besetzt.
Durch die Tür höre ich mir wohlvertraute Stimmen.
"Probier den mal."
"Coole Farbe. Ist der auch von Mäc?"