13. Oktober 2016

Nicht mein Tag



Ich stehe am Gleis und warte auf die U79 zum Hauptbahnhof. Reise für drei Tage nach Norderney, meine Mutter macht dort Urlaub, ich möchte sie besuchen.

Ein Blick auf die große Uhr. Mich trifft fast der Schlag. Es ist eine Stunde später als ich dachte. Ich habe meinen Wecker falsch gestellt, es ist halb 9, nicht halb 8, auf der Uhr am gegenüberliegenden Gleis genauso. Als ich gerade losheulen möchte, weil ich eine Fähre ohne Frau Meyer an Bord von Norddeich Mole zur Insel übersetzen sehe, sagt eine Frau:

"Sie haben bestimmt auch gedacht, Sie hätten verschlafen. Die Uhr hier oben geht eine Stunde vor. Es ist erst halb 8." Ich atme tief durch. Wach bin ich jetzt jedenfalls.


Am Hauptbahnhof gehen auch alle Uhren genau eine Stunde vor. Ich möchte das fotografieren. Bahnhofsuhr versus Armbanduhr. Das Ganze auf Facebook, Überschrift: Bluthochdruck. Wühle in meinem Rucksack nach meinem Smartphone. Finde es nicht. Ist normal, ich finde nie etwas in Taschen und Rucksäcken. Wühle weiter, finde das Smartphone immer noch nicht. Bekomme Panik, als hätte ich ein lebenswichtiges Medikament zuhause vergessen. Das Lustig-Foto mit der Uhr ist piepegal, aber wie wird meine Mutter reagieren, wenn ich auf ihre Whatsapp nicht antworte? Nach Hause fahren und das Smartphone holen liegt nicht mehr in der Zeit. Die Fähre führe ohne mich, das geht nicht. Eine junge Frau, die ihr Smartphone bearbeitet, bitte ich, die Telefonnummer von Mamas Hotel zu googlen. Schreibe sie auf den Fahrkarten-Umschlag. Finde tatsächlich einen guten alten Münzfernsprecher, um den nicht vertrauenserweckende Gestalten herumschleichen. Möchte den Hörer mit Sagrotan besprühen, denke jedoch daran, dass ich meine Mutter schnell erreichen muss und wähle. "Herzlich willkommen in der Reservierungszentrale der Michels Hotels, Sie rufen außerhalb unserer Geschäftszeiten an. Sie erreichen uns montags bis freitags..". Ich lege auf, 1 Euro ist weg. Habe noch fünfzig Cent Kleingeld. Was tun? Mein Zug fährt gleich los. Ich rufe meine Tante an, deren Festnetznummer habe ich im Kopf. Habe keine Zeit, höflich zu sein und bitte sie, meiner Mutter eine Whatsapp zu schicken, dass ich mein Smartphone nicht dabei habe und sie um fünfzehn Uhr an der Rezeption ihres Hotels treffen werde.


Kaufe mir bei Ida & Frida ein gesundes Brötchen und am Gleis einen Cappuccino. Streue Zimt drauf. Zimt ist gut für die Nerven. Schaue auf meine Platzreservierung. Wagen 3, Platz 71. Dort richtet sich gerade ein Ehepaar gemütlich ein.


"Entschuldigung (warum entschuldigen sich Frauen immer?), ich glaube, das hier ist mein Platz", sage ich, durchaus freundlich, während ich umständlich den Reservierungsbeleg aus meinem Rucksack nestele.

"Nein, wir haben hier reserviert", antwortet die Frau. "Wagen 2, Platz 71 und 73."

"Dies hier ist Wagen 3", freue ich mich und zeige auf die Wagennummer. Das Paar entfernt widerwillig seine Jacken und Taschen.

Möchte meiner Freundin den chaotischen Tagesbeginn per Whatsapp mitteilen. Geht nicht. Das Smartphone liegt zuhause.


Stattdessen und mit freudiger Erwartung wende ich mich meiner Urlaubslektüre zu, die ich jungfräulich (das Buch, nicht ich) mit auf Reisen genommen habe. Der Distelfink von Donna Tartt. Atme wieder tief durch, nehme einen Schluck Cappuccino und beginne zu lesen. Komme aber nur bis zur Widmung.


Für Mutter, für Claude.


Eine gerade zugestiegene Familie lenkt mich ab. Oma, Opa, Mutter, zwei Kinder in der Pubertät. Es wird über die Platznummern orakelt.

"Nein, wir sitzen hier, steht doch hier 88, 86, 84, 82 und drüben die 81. Nein, nein, bleiben Sie sitzen, wir sitzen hier, nur einer von uns sitzt neben ihnen."

Koffer werden hoch gewuchtet, ein Rollator ganz oben drauf gelegt.

Dem Opa gefällt das nicht.

"Da kann sich einer den Kopf dran stoßen."

"Nun setz dich, der Rollator ist festgeklemmt."

"Ja, aber da kann sich einer den Kopf dran stoßen."

Die Mutter verteilt Brötchen.

"Wir essen alle Brötchen, nur Mama isst immer Brot."

"Da kann ich sich einer den Kopf dran stoßen."

"Hier, vegetarische Fleischwurst."

"Mama isst immer nur Brot. Warum isst du keine Brötchen?"

"Können wir Skip-Bo spielen?"

"Da kann sich einer den Kopf dran stoßen."


Bessere Dialoge hätte Loriot sich auch nicht ausdenken können.


Und wir sind erst in Duisburg.