7. März 2014

Gunajapob



Ich saß vor kurzem an einem Tag, als es wetterbedingt tatsächlich schon möglich war, draußen vor meinem Lieblingseiscafé. Als ich eine Mutter ihren Sohn rufen hörte („Jakob, nun komm endlich, wir müssen nach Hause!“), musste ich an eine der Geschichten denken, die mein Vater gern erzählt hat.

Früher, als es außer dem Radio keine technischen Unterhaltungsmöglichkeiten gab, spielten die Kinder gern und viel draußen. In der Nachbarschaft meiner Familie wohnte der Förster Glaser mit Frau und Kindern, und hin und wieder wurden dort verwaiste Tiere aufgepeppelt. So auch ein Rabenjunge, der wohl aus einem Nest gefallen war. Er erhielt den Namen Jakob. Dieser wurde gewärmt und gefüttert, die Kinder freuten sich, dass der Vogel überlebte und machten ihn zu ihrem Spielgefährten. Jakob gehörte irgendwie allen Kindern, die auf der „Buckemühle“, also dem Teil des Dorfes, durch den der gleichnamige Bach floss, wohnten.

Wenn mein Vater Hermann mit seinem Fahrrad hinunter ins Dorf fuhr, pfiff er ganz laut und rief „Jakob, Jaaaaakob“ und irgendwann hörte er das pffftpffftpffft des Flügelschlags. Der Rabe setzte sich auf die Schulter meines Vaters und zwickte ihn ein wenig ins Ohrläppchen. „Und wenn ich dann links in die Kurve bei Loches abbog, hat er seinen rechten Flügel ausgestreckt, um die Balance zu halten.“ Für die Kinder der Buckemühle war Jakob ein echter Freund geworden. Abends, wenn die Kleinen nach dem Spielen nach Hause gehen mussten, riefen sie „Gute Nacht, Jakob!“. Und der Rabe erwiderte „Gunajapob“ und flog davon. Ein wenig sprechen konnte er also auch.

Die Erwachsenen hatten weniger Freude an Jakob. Im Heimatort meines Vaters waren nach dem 2. Weltkrieg einige Pensionen entstanden, die damals Fremdenheime hießen. Die Gäste kamen aus der Stadt und waren manchmal vornehmer als die Ortseinwohner. Sie nutzen ihren Urlaub auf dem Land, um die frische Luft zu genießen und um zu zeigen, was sie hatten, unter anderem ihren Schmuck. Jakob mochte alles, was glänzte. Schließlich war er ein Rabe. Besonders Gold hatte es ihm angetan. Der inzwischen ausgewachsene Vogel mit einer beeindruckenden Spannweite konnte sich sehr klein machen und sich durch Fensteröffnungen quetschen. Da es noch keine Mietsafes gab, klaute er Ringe, Kettchen, Armbänder, goldene Kugelschreiber. 
Besonders die Gäste des „Kölner Hof“ gegenüber waren betroffen und beschwerten sich. Ich weiß nicht, ob sie das eine oder andere Zimmermädchen oder gar die Pensionsbesitzer selber verdächtigten, auf jeden Fall entdeckte einer der Erwachsenen irgendwann den schwarzen Vogel mit einem Kettchen im Schnabel. Leider brachte er nichts von seinem Diebesgut zurück. Auch in der Pension meiner Großmutter hatte er für Ärger gesorgt. Er war durch das Fenster mitten in einer Torte, die sich ein Gast zum Geburtstag bestellt hatte, gelandet und hatte durch das Schlackern mit den Flügeln die Sahne und den Teig im Gästezimmer verteilt. Dieses musste komplett neu tapeziert werden.

Das ging zu weit! Die Beschwerden beim Förster Glaser häuften sich, die Gäste verlang- ten, dass man etwas unternehme gegen das kleptomanische Tier. Herr Glaser hatte die Nerven blank liegen, packte Jakob in eine Zigarrenkiste mit Löchern zum Atmen und fuhr mit meiner Oma und meinem Vater ins 30 Kilometer entfernte Winterberg. Dort setzte er den Raben im Wald aus. Mein Vater war sehr traurig darüber. Umso mehr freute er sich, als der Wagen des Försters in die Einfahrt zum Haus meiner Großeltern einbog. Jakob saß auf dem Treppengeländer. Mein Vater schwört bis heute, dass der Rabe ihm zugezwinkert hätte. Der Förster seufzte. Der Vogel war sehr hartnäckig. Unglücklicherweise auch, was Stehlen anging. Der Ärger ließ nicht nach.

Schließlich entschied sich der Förster schweren Herzens, den Raben zu erschießen. Mein Vater Hermann und die anderen Kinder auf der „Buckemühle“ waren untröstlich. Um sich von ihrem gefiederten Freund würdevoll zu verabschieden, veranstalteten die Kinder einen Trauerzug durch das Dorf. Bei der Beisetzung flossen viele Tränen.
Es war ein rabenschwarzer Tag.





Foto: Dirk Ralf Holey (Fotocommunity)