Ich saß vor kurzem an einem Tag, als
es wetterbedingt tatsächlich schon möglich war, draußen vor meinem Lieblingseiscafé. Als ich eine
Mutter ihren Sohn rufen hörte („Jakob, nun komm endlich, wir
müssen nach Hause!“), musste ich an eine der Geschichten denken,
die mein Vater gern erzählt hat.
Früher, als es außer dem Radio keine
technischen Unterhaltungsmöglichkeiten gab, spielten die Kinder gern
und viel draußen. In der Nachbarschaft meiner Familie wohnte der
Förster Glaser mit Frau und Kindern, und hin und wieder wurden dort
verwaiste Tiere aufgepeppelt. So auch ein Rabenjunge, der wohl aus
einem Nest gefallen war. Er erhielt den Namen Jakob. Dieser wurde
gewärmt und gefüttert, die Kinder freuten sich, dass der Vogel
überlebte und machten ihn zu ihrem Spielgefährten. Jakob gehörte
irgendwie allen Kindern, die auf der „Buckemühle“, also dem Teil
des Dorfes, durch den der gleichnamige Bach floss, wohnten.
Wenn mein Vater Hermann mit seinem
Fahrrad hinunter ins Dorf fuhr, pfiff er ganz laut und rief „Jakob,
Jaaaaakob“ und irgendwann hörte er das pffftpffftpffft des
Flügelschlags. Der Rabe setzte sich auf die Schulter meines Vaters
und zwickte ihn ein wenig ins Ohrläppchen. „Und wenn ich dann
links in die Kurve bei Loches abbog, hat er seinen rechten Flügel
ausgestreckt, um die Balance zu halten.“ Für die Kinder der
Buckemühle war Jakob ein echter Freund geworden. Abends, wenn die Kleinen nach dem
Spielen nach Hause gehen mussten, riefen sie „Gute Nacht, Jakob!“.
Und der Rabe erwiderte „Gunajapob“ und flog davon. Ein wenig
sprechen konnte er also auch.
Die Erwachsenen hatten weniger Freude
an Jakob. Im Heimatort meines Vaters waren nach dem 2. Weltkrieg
einige Pensionen entstanden, die damals Fremdenheime hießen. Die
Gäste kamen aus der Stadt und waren manchmal vornehmer als die
Ortseinwohner. Sie nutzen ihren Urlaub auf dem Land, um die frische
Luft zu genießen und um zu zeigen, was sie hatten, unter anderem
ihren Schmuck. Jakob mochte alles, was glänzte. Schließlich war er
ein Rabe. Besonders Gold hatte es ihm angetan. Der inzwischen
ausgewachsene Vogel mit einer beeindruckenden Spannweite konnte sich
sehr klein machen und sich durch Fensteröffnungen quetschen. Da es
noch keine Mietsafes gab, klaute er Ringe, Kettchen, Armbänder,
goldene Kugelschreiber.
Besonders die Gäste des „Kölner Hof“
gegenüber waren betroffen und beschwerten sich. Ich weiß nicht, ob sie das
eine oder andere Zimmermädchen oder gar die Pensionsbesitzer selber
verdächtigten, auf jeden Fall entdeckte einer der Erwachsenen
irgendwann den schwarzen Vogel mit einem Kettchen im Schnabel. Leider
brachte er nichts von seinem Diebesgut zurück. Auch in der Pension
meiner Großmutter hatte er für Ärger gesorgt. Er war durch das
Fenster mitten in einer Torte, die sich ein Gast zum Geburtstag
bestellt hatte, gelandet und hatte durch das Schlackern mit den
Flügeln die Sahne und den Teig im Gästezimmer verteilt. Dieses
musste komplett neu tapeziert werden.
Das ging zu weit! Die Beschwerden beim
Förster Glaser häuften sich, die Gäste verlang- ten, dass man etwas
unternehme gegen das kleptomanische Tier. Herr Glaser hatte die
Nerven blank liegen, packte Jakob in eine Zigarrenkiste mit Löchern
zum Atmen und fuhr mit meiner Oma und meinem Vater ins 30 Kilometer
entfernte Winterberg. Dort setzte er den Raben im Wald aus. Mein
Vater war sehr traurig darüber. Umso mehr freute er sich, als der
Wagen des Försters in die Einfahrt zum Haus meiner Großeltern
einbog. Jakob saß auf dem Treppengeländer. Mein Vater schwört bis
heute, dass der Rabe ihm zugezwinkert hätte. Der Förster seufzte.
Der Vogel war sehr hartnäckig. Unglücklicherweise auch, was Stehlen anging. Der Ärger ließ nicht nach.
Schließlich entschied sich der Förster
schweren Herzens, den Raben zu erschießen. Mein Vater Hermann und
die anderen Kinder auf der „Buckemühle“ waren untröstlich. Um
sich von ihrem gefiederten Freund würdevoll zu verabschieden, veranstalteten die Kinder einen Trauerzug durch das Dorf. Bei der Beisetzung flossen viele Tränen.
Es war ein rabenschwarzer Tag.
Foto: Dirk Ralf Holey (Fotocommunity)