15. Mai 2016

Leichtes Gepäck

Eines Tages fällt dir auf,
dass du 99 Prozent nicht brauchst.
Du nimmst all den Ballast und schmeißt ihn weg,
Denn es reist sich besser, mit leichtem Gepäck.*


Die Tüte war weg.

Ich wunderte mich, dass ich beide Hände frei hatte, um meine schwere Reisetasche in die überhitzte U-Bahn zu wuchten. Mit einer Hand hätte ich eigentlich mein zweites Gepäckstück, eine Plastiktüte, tragen müssen. Eigentlich.

Die Erkenntnis in der U79 brachte mich fast zum Heulen (später zuhause heulte ich auch, aber nur ein bisschen). Ich hatte die Tüte im Zug vergessen. Wenn ich genauer nachdachte, wahrscheinlich schon in der ersten Bahn, aus der ich in Schwerte ausgestiegen war. In der zweiten Bahn hatte ich nur meinen Reisekoffer zwischen zwei Sitzreihen geschoben und da war die Tüte schon...ja, wo war sie denn? Entweder auf dem Gleis im Bahnhof Brilon-Wald (übrigens ein durchaus geeigneter  Drehort für Filme, die in der Nachkriegszeit spielen), weil ich per Smartphone versucht hatte herauszufinden, auf welchem der unkrautbewachsenen Bahnsteige mein Zug abfahren sollte. Da hatte ich die Tüte abgestellt. Oder vielleicht bei Kamps im Bahnhof Schwerte, wo ich mir einen Cappuccino holte, um ein bisschen wach zu werden. Man lässt bei solch einer Gelegenheit gern mal eine Tasche stehen, während man den Kaffee zahlt. Wenn man Frau Meyer heißt. 
 
Ich googelte Kamps Filiale Schwerte Bahnhof und telefonierte sogleich mit einem netten Fräulein, das mir sagte, dass keine Tüte gefunden worden sei. Dann heulte ich ein bisschen. Mehr aus Wut über mich selbst. Es war meine ureigene Dämlichkeit, die mich die Tüte hatte vergessen lassen. Und die Tüte brauchte ich nur, weil ich wieder viel zu viele Klamotten in meine Reisetasche gepackt hatte.
 
Geplant waren nur zwei Nächte in meinem hochsauerländischen Heimatort.
Die Kleidung hätte für sieben Nächte ausgereicht und es fanden dort auch keine Filmfestspiele statt, sondern ein wunderbares Treffen mit meinen Freundinnen Inga, Marijke und Nicole, die ich zum Teil viele Jahre nicht gesehen hatte. Ein Spaziergang, intensive Gespräche über damals und heute, Lustiges und Trauriges, abends Essen bei Enzo, der unsere Wiedersehensfreude mit  einem Zitronensorbet krönte.

Heimat, ja doch, irgendwie schon

Obwohl ich oft auf Reisen bin, habe ich bisher keine sinnvolle Kofferpacktechnik entwickelt, denn ich will doch für alle Fälle (starker Sonnenschein, Sturm, Regen, plötzlicher Schneeeinfall oder Spontan-Date mit Bradley Cooper) gewappnet sein. Ebenso gern hätte ich den Wunsch, vor bösen Überraschungen sicher zu sein, auch auf mein Leben übertragen. Als Jugendliche dachte ich ja, das Schlimmste, was mir zustoßen konnte, wäre, dass ich in denselben jungen Herrn wie meine Freundin verliebt war. Ha. Wie gut, dass ich damals nicht wusste, welche Widrigkeiten sich mir im Lauf der Jahre noch in den Weg stellen sollten.

Also, viel zu viele Klamotten im Koffer, dann noch verqualmte Sachen (das Nichtraucherschutzgesetz wurde 2010 in Hessen aufgelockert), die ich nicht zu den frischen, komplett ungetragenen Kleidungsstücken legen wollte. Ich fluchte beim Versuch, den Reißverschluss der Reisetasche zu schließen und packte noch ein komplett ungetragenes Paar Schuhe aus und in die Plastiktüte einer Willinger Boutique mit der Aufschrift CRUSE.
 
Diese Tüte war weg und mit ihr

Ein Paar Stiefeletten, grau-braun metallic
Ein schwarzbuntes T-Shirt
Ein hellgrauer Sommer-Poncho
Mein LieblingsBH (rosé-schwarz aus der 50 Shades of Grey-Ecke bei Hunkemöller)
Ein Schmuckkästchen mit Modeschmuck, an dem trotzdem mein Herz hängt

sowie

eine Tortenform, die sich seit 1998 im Haushalt der Familie meiner Freundin Inga befand, weil ich in selbiger zum 10jährigen Abi-Treffen einen Gemüsekuchen gebacken hatte

und darüber hinaus

eine Flasche Büffelgraswodka von Grasovka, die Inga mir extra aus einem gut sortierten Supermarkt besorgt hatte, nachdem sie durch meinen Blog-Text Büffelgraswodka auf den Verlust dieses Mitbringsels aus Polen aufmerksam wurde.

Alles weg.

Das mit dem Wodka tat mir besonders leid, ich hatte mich über alle Maßen über das gut durchdachte Geschenk gefreut (ich hab´s dir noch gar nicht erzählt, Inga, jetzt weißt du´s).

Selbstverständlich rief ich sofort bei der Fundstelle der deutschen Bahn an und betonte den Verlust des Wodkas mit viel Nachdruck, bis ich bemerkte, wie stutzig die Dame am anderen Ende der Leitung wurde. Ich hatte aber keine Lust, ihr mein Wodka-Dilemma zu erklären. "Den Wodka konnte bestimmt jemand gut gebrauchen", jammerte ich in Erinnerung an die anheimelnde Atmosphäre am Bahnhof Schwerte.

Ich mit Koffer, ohne Tüte

"Bleiben Sie bitte ganz ruhig", versuchte die Mitarbeiterin der Deutschen Bahn mich mit ihrer Therapeutenstimme zu besänftigen. "Tatsächlich tauchen in sechzig bis siebzig Prozent der Fälle verlorengegangene Gepäckstücke wieder auf." Ich versprach, mich in Geduld zu üben.

Zwei Tage später rief ich wieder an, hatte dieselbe Mitarbeiterin am Telefon und nannte meine Auftragsnummer.

"Sie müssen sich bitte gedulden, Frau Meyer. Wenn im Zug oder am Bahnhof Taschen gefunden werden, werden die ja nicht sofort zur Sammelstelle gebracht." Ach so.

Ich harre also der Dinge und wische Visionen von Jugendlichen, die meinen Wodka saufen, meinen LieblingsBH reihum tragen und Fotos davon machen, beiseite. Vielleicht hat sich irgendeine Mama über meinen Sommerponcho zum Muttertag gefreut.

Allerdings ist nun genau eine Woche rum, da könnte ich vielleicht doch nochmal beim Fundservice der DB anrufen

Geduld war noch nie meine Stärke.
Mich beim Kofferpacken auf das Wesentliche zu beschränken, auch nicht..

Und zum Thema Wodka sag ich gar nichts mehr.



* Textauszug aus Leichtes Gepäck von Silbermond