16. Oktober 2016

Smartphonefrei auf Norderney

"Da kann sich einer den Kopf dran stoßen."

Der Opa nörgelt nur noch ein bis zwei Mal wegen des für Mitreisende gefährlich verstauten Rollators. Dann gibt er auf. Während der Rest der Familie Karten spielt, unterhält er sich mit einem Ehepaar, das mit ihm den Tisch im Großraumwagen des Intercity teilt.

"Ja, ich war schon Mal auf Norderney. Ist aber schon ein Weilchen her. Nach´m Kriech haben se mich da hoch geschickt, damit ich ein paar Pfunde zulege. War schön da, gute Luft. Und das Meer!"

Mir fällt ein, dass Norderney in meiner Grundschulzeit das Ziel einer von uns Knirpsen sehr gefürchteten Kinderlandverschickung war. Gruselige Geschichten über Kinderheime, Heimwehtränen, ungenießbares, nur der Mast von mageren Kindern dienendem Essen kursierten auf dem Pausenhof. "Heike war in den Sommerferien auf Norderney", flüsterten wir uns zu, während wir versuchten, Veränderungen an der Mitschülerin festzustellen. Hatte man sie zum Essen gezwungen? Hatte man ihren Willen gebrochen? Norderney regte unsere Phantasie an. Es war Guantanamo und Alcatraz in einem. Oder zumindest das, was Frankfurt für Alm Öhis Enkelin Heidi bedeutete. Ich war heilfroh, dass ich nie dorthin musste.

Und jetzt freue ich mich auf die Insel. Der Zug fährt durch plattes Land, hinter Münster dominiert der rote Backstein, die Häuser werden immer putziger. Aufgeräumte Gärten. Hier ist die Welt noch in Ordnung. Inzwischen bin ich so entspannt, dass ich die Gespräche um mich herum ausblenden kann. Weil ich mein Smartphone zuhause vergessen habe, bleibt mir noch mein Buch, Der Distelfink, in das ich mich bereits nach den ersten gelesenen Seiten verliebe. Vor allem in den dreizehnjährigen Theo Decker, die Hauptfigur des Romans.

Am Rande der Park Avenue standen Kolonnen von roten Tulpen in Habtachtstellung, als wir vorbeijagten. Bollywood Pop - zu einem leisen, beinahe unterschwelligen Wimmern heruntergedreht - glühte in hypnotisierenden Spiralen an der Schwelle meines Gehörs.

Ich lese eine derartig feine, sensible Sprache voller Freude und gleichzeitiger Demut. Donna Tartt schreibt so wunderbar, dass ich das Buch nicht weglegen und gleichzeit sofort und für immer mit dem Schreiben aufhören möchte. Niemals wird mir solch ein Werk gelingen, und während mein Zug durch Leer fährt, werde ich melancholisch. Diese Stimmung hält auch auf der Fähre an. Um mich herum lauter Familien oder Paare. Ich nehme an einem Tisch Platz, eine Bedienung nimmt die Bestellung auf. Meine Seele verlangt nach Kakao mit Sahne. Den zahlen übrigens meine Mitreisenden, denn kurz bevor wir im Norderneyer Hafen ankommen, gehe ich an Deck und mache mit meiner in letzter Zeit vernachlässigten Kamera Fotos. Nun, da mein Smartphone in Düsseldorf liegt (hatte ich schon erwähnt, oder?), kommt sie endlich wieder zum Einsatz. Ich lasse mir die steife Brise um die Nase wehen und vergesse, den Kakao zu bezahlen.




Zwei Tage später treffe ich in der Weißen Düne eine Dame aus Mettmann, die die Rechnung übernommen hat. Sie möchte auf gar keinen Fall das Geld zurück haben. Ich glaube, Inseln machen Menschen großzügig. Vor allem Nordseeinseln. 

Nachdem ich meine seit zehn Tagen urlaubende Mutter in die Arme geschlossen habe, zeigt sie mir, wo es überall schön ist. Aus der einfachen Pension, in der wir vor vierundvierzig Jahren einen Urlaub verbracht haben und an die ich mich überhaupt nicht erinnern kann, ist ein stylishes Hotel mit Restaurant geworden.

 

"Ich muss jeden Tag mindestens einmal ans Meer", erzählt mir meine Mutter. Ich selbst bin nur drei Tage hier und - klar - ans Meer muss ich auch. Gerade im Herbst wechselt das Licht, der Strand sieht ständig anders aus. 





Wir trinken einen Tee im Café Marienhöhe, genießen die Aussicht auf vorbeifahrende Schiffe. Draußen regnet es.


Und wie im richtigen Leben, folgt auch an der See auf Regen Sonnenschein.








Ich atme tief durch, wie man es nur an der See kann.  
Sehr wahrscheinlich ziehe ich hierhin.
Oder komme wieder zum Urlaub machen her.

Mal sehen.



Roman Der Distelfink Donna Tartt 
Goldmann Verlag  ISBN 978-3-442-47360-1

Fotos ©  Britta Meyer