25. Mai 2016

Kindergarten


Morgens gehe ich auf dem Weg zur U-Bahn an einer Kirche und dem dazugehörigen Kindergarten vorbei. Die Väter und Mütter bringen ihre Kinder zu Fuß, manchmal mit dem Rad und meistens mit dem Auto. Da fällt mir ein, das rothaarige Rasseweib mit den Reitstiefeln und dem SUV habe ich lange nicht gesehen, vielleicht ist sie umgezogen, vielleicht ist das Kind in der Schule. Diese Dame war immer spät dran und schob keuchend ihren Nachwuchs durch das Eisentor. Andere Eltern beruhigen ihre Sprösslinge, die die Beine der Erwachsenen umklammern und laut und lauter weinen, so als wäre die Kindertagesstätte der Vorhof zur Hölle.

Was den unterschiedlichen Enthusiasmus der Kleinen angeht, hat sich seit meiner Kindergartenzeit offenbar nicht viel geändert. Nur dass die Mütter in meinem hochsauerlän-dischen Heimatort keinen SUV fuhren und kein oliv-beiges Landlust-Abonnementinnen-Outfit trugen. Sie fuhren Kombis und trugen Kittel. Die meisten Mütter waren Hausfrauen und der Kittel sagte aus, dass man eigentlich gar keine Zeit hatte, das Kind abzuliefern, da gab es zuhause noch sooo viel zu tun. Meine Mutter lieferte mich ebenfalls im Kittel ab, denn sie arbeitete im Hotelbetrieb als Bedienung, Küchenhilfe, Sekretärin und Transferservice in einem.

Ich liebte den Kindergarten, öffnete voller Vorfreude das in den Jägerzaun integrierte Türchen und rannte los, denn es erwartete mich aus meiner Sicht das echte Paradies. Die Bauecke, die Rutsche, die Schaukel, die Verkleidungskiste, Malstifte ohne Ende, Spielkameraden, Tante Anni und Tante Gisela, die aufgrund einer Lautschwäche von vielen Disela gerufen wurde. Ich rannte eigentlich immer rein in den Kindergarten und drehte mich nicht um. Da musste also gar nicht gewunken werden, weder beidarmig noch sonstwie. 


Meine Mutter wusste, dass ich im modernen evangelischen Kindergarten gut aufgehoben war. Dieser wurde von der alleinerziehenden Frau K. geleitet, die später, so meine ich mich zu erinnern, Vorsitzende der Grünen wurde und sich stark machte für die Installation einer Frauengruppe (jeder Punkt für sich stellte im Sauerland damals ein Skandälchen dar). Vermutlich war meine Mama froh, dass sie wieder schnell zurück in unsere Hotel-Pension zur Arbeit kam, während andere Mütter die Fingerchen ihrer Kinder einzeln vom Jägerzauntürchen lösen mussten, so wenig gelüstete es ihnen nach einem Vormittag in der Erziehungsstätte.

Dennoch denke ich im Nachhinein, ich hätte mich ruhig einmal kurz umdrehen und meiner Mutter winken können. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ihr auf dem Weg nach Hause etwas zugestoßen wäre, ohne dass ich mich ordentlich verabschiedet hatte. 

Heute Morgen blieb mein Blick an einem Mann, einem jungen Vater, haften, der sich rückwärts gehend vom Kindergartengebäude St. Adolfus entfernte. Dabei winkte er wild, fast dramatisch, mit beiden Armen von rechts nach links, von rechts nach links. Dieses Winken war meiner Ansicht nach ein wenig übertrieben, ich kannte es bisher nur aus Schwarz-Weiß-Dokumentationen aus dem Jahre 1912. Damals legte die Titanic in Southampton Richtung New York ab. Die Menschen winkten so, als ginge es um Leben und Tod, und das ging es ja auch, nur wusste es da noch keiner. Eine ähnliche Wink-Dramaturgie legte also der Vater hin.
Ich schüttelte innerlich den Kopf. Welches Szenario würde er seinem Nachwuchs bieten, wenn das Kind nach einem Highschool-Jahr in den USA wieder zurückkehrt? Einen Flieger, der über dem Rhein Loopings dreht und mit rotem Rauch Willkommen zurück, Torben-Hendrik in die Luft malt? Das war doch nicht normal, dieses Winken, dieses Überbehüten. Bekloppt war das...
...dachte ich, bis der Vater aus dem Sichtfeld des Kindes geriet. Dann drehte er sich wieder in Laufrichtung, also in meine, und zündete sich sogleich eine Zigarette an. Inhalierte tief und blies den Rauch wieder in die Luft. Weißen Rauch, der folgende Worte bildete: ENDLICH RUHE

Zumindest schien es mir so.