Die Welt wird immer bekloppter.
Um das zu begreifen, muss man keine Nachrichten schauen und über das große Ganze sinnieren, da guckt man einfach mal in seinen eigenen persönlichen Alltag.
Voilà:
„Haben Sie Ihre Payback-Karte dabei?"
Ich wühle in meinem Portemonnaie und irgendwo zwischen EC- und Visa-Karte, dem Weight-Watchers-Mitgliedsausweis, der Friseur-Bonuskarte, dem Gildepass für die Düsseldorfer Programmkinos, dem Abholzettel für die Reinigung und dem Ticket für die Rheinbahn finde ich die blaue Karte, mit der ich Punkte sammeln kann und halte sie der Frau an der Kasse hin.
Ich habe 45 Minuten Mittagspause und habe mich ausgerechnet an der Kasse mit der langsamsten Kassiererin angestellt, weil ich nicht aufgebe, ihr eine Chance zu geben. Freundlich ist sie ja. Und als ich endlich am Zug bin und die Waren über den Scanner gezogen werden, fragt mich die Kassiererin: „Möchten Sie Ihre Payback-Punkte direkt einlösen?"
„Ach nö", sage ich. "Ich sammle lieber noch ein bisschen."
„Wenn Sie die Payback-Punkte heute einlösen, erhalten Sie Samstag zwischen 10:00 und 10:35 Uhr fünf Prozent Rabatt auf unser Weihnachtsgebäck mit Haltbarkeitsdatum bis Ende des Jahres."
Legen Sie mich nicht auf diese Aussage fest, jedenfalls sagt sie etwas ähnlich Kompliziertes, während ich meine Waren einpacke, damit das hier mal voran geht. Die Suche nach der Payback-Karte hat mich wertvolle fünf Minuten gekostet, die Schlange hinter mir ist not amused.
„Nein, danke schön."
„Aber wenn Sie einen Großeinkauf für Weihnachten machen, das lohnt sich doch!"
Herrje. Kein Wunder, dass das so lange dauert, wenn ich mittags einkaufe, nun müssen die Frauen und Männer an der Kasse einem mitten im Zahlvorgang noch irgendwelche Deals unterjubeln und fragen, ob man Punkte sammelt für die WMF-Kochtöpfe. Ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken, welche Vorteile diese Aktionen haben. Und Lust sowieso nicht.
Ich will bei McPaper an der Kasse auch keinen Glitzerstift oder No-Name-Klebestifte oder Klebebänder, die zwar preiswerter sind als die Markenprodukte, mich aber später zu Hause in den Wahnsinn treiben, weil sie nicht ordentlich kleben. Ich will das alles nicht. Weil es mich und meine Mitmenschen Zeit und somit Nerven kostet. Immerhin bekomme ich auch hier ein höfliches „Nein, danke" hin. Darauf bin ich ein bisschen stolz.
Nach der Mittagspause geht es weiter mit dem Wahnsinn.
Die PCs arbeiten sehr langsam oder gar nicht. Leider kommt es so oft vor, dass die Kunden dies mit „Ach, schon wieder?" oder „Liegt das an mir, jedes Mal, wenn ich bei Ihnen bin, haben Sie technische Probleme?" kommentieren. Server runter- und hochfahren ist in Fleisch und Blut übergegangen wie Atmen. Der Zugang zum Server geht nur mit einem persönlichen Passwort, das wir aus Sicherheitsgründen sehr häufig ändern müssen.
Das mit den Passwörtern ist schwierig.
Es begann mit Lieblingsreisezielen, stimmungserhellenden Nomen wie Sonnenschein, Urlaub, Strand oder eigenen Spitznamen oder denen des Partners.
Das reichte aber nicht aus, um sicher zu sein.
Bitte nutzen Sie eine Buchstaben-Zahlen-Kombi mit mindestens 8 Zeichen, mindestens einem Großbuchstaben und einem Sonderzeichen.
Also benutzen wir den Vornamen der Mutter, plus der Schuhgröße des Bruders, plus einem Fragezeichen.
Oder den Ort in der Bretagne, der uns im Sommer so gut gefallen hat, plus dem Alter des ältesten Kindes der Kollegin, plus einem Ausrufezeichen.
Oder den Namen des Ortes, in dem man aufgewachsen ist, plus das Todesjahr von Steve McQueen, plus Dollarzeichen.
Oder das Kennzeichen des Wagens, den man von 1991 bis 1994 gefahren hat, plus die letzten sechs Stellen der Sozialversicherungsnummer.
Je abstruser, desto sicherer, desto besser.
Nun ist das Ende der Kreativitätsfahnenstange allmählich erreicht. Denn:
Bitte nutzen Sie keines der letzten 10 genutzten Passwörter. Geben Sie das Passwort erneut ein.
Es gibt Tage, da komme ich vor lauter Haareraufen nicht zum Tippen.
Wir brauchen Passwörter für den Server, das Midoffice-System, in dem wir die Vorgänge verwalten, und eines für die Zeiterfassung. Mal abgesehen von Passwörtern für das Extranet und das Bestellwesen.
Ohne den Zugang zum Server läuft gar nichts, logisch.
Fluchen, jammern, mit dem Kopf auf die Schreibtischplatte hauen, bringt nichts, wie wir nach mehreren Selbstversuchen feststellen konnten.
Manchmal hat man den Server hochfahren können, kommt aber nicht ins Verwaltungssystem, hat dann keinen Zugriff auf die Kundendaten.
Die Kollegin, deren PC reibungslos läuft, wird gleichermaßen gehasst und bewundert. Gern wird mal ein „also, meiner läuft" in die Runde geflötet und ein „schön für dich" zurückgeknurrt.
Eigentlich haben wir Kolleginnen uns aber sehr lieb.
Deshalb helfen wir uns, wenn gar nichts mehr geht.
Neulich sagt Kollegin 1 zu Kollegin 2: „Ich komme hier nicht weiter. Kannst du mir mal dein Passwort sagen?"
Kollegin 2, die gerade eine Kundin bedient, wird ein bisschen rot und windet sich.
„Bitte, ich kann sonst nicht weiterarbeiten, du kannst dir doch sofort ein neues holen!"
(Passwörter an die Kollegin weitergeben ist bei Todesstrafe verboten: der Datenschutz!)
„Das geht jetzt nicht", zischt Kollegin 2 durch die geschlossenen Zähne Kollegin 1 zu.
„Ich komme beim HelpDesk nicht durch, nun hilf du mir doch bitte."
Kollegin 2 schreibt etwas auf einen Notizzettel und reicht ihn der verzweifelten Kollegin 1. Kollegin 1 grinst und zeigt mir den Zettel.
Darauf steht: AmArsch3!
Kein Sonnenschein15?, kein Hasimaus75%.
AmArsch3!
Ein rüder Ton hat Einzug in unsere Passwörterwelt gehalten.
Mich wundert das nicht.
In AmArsch3! steckt der ganze Frust der Userin. Die Systeme laufen nicht und dann sollst du dir dauernd leicht zu merkende, aber trotzdem unverwechselbare Log-ins ausdenken.
Als die Kundin das Büro verlässt, sagt Kollegin 2: „Ich konnte dir doch nicht das Passwort zurufen!" Kollegin 3 sagt: „Meines kann ich dir auch nicht laut sagen."
Kollegin 2 ändert ihr Passwort sofort.
Ich möchte nicht wissen, wie das neue heißt. Darf ich auch gar nicht.
Aber feststellen, dass die Welt immer bekloppter wird, das darf ich.