Hermann wurde 1939 geboren. Im September, als der fürchterliche Krieg begann. Er erinnert sich noch gut daran, wie seine Mutter ihn und seine zwei Jahre ältere Schwester an den kleinen Händchen schnappte, wenn die Sirenen ertönten. Sie lief mit den Kindern an das andere Ende des Dorfes und versteckte sich mit ihnen und vielen weiteren Dorfbewohnern in einem Stollen der Schiefergrube. Als im März 1945 der Bahnhof seines Heimatortes aufgrund eines dort abgestellten Munitionszuges von britischen Jagdflugzeugen angegriffen wurde, spielte Hermann gerade mit seinem Freund Heinrich auf einer Wiese am Rand des Dorfes. Als die Flieger kamen, legten sich die beiden Jungs ganz flach in ein Gerstenfeld und hielten sich die Ohren zu, bis alles vorbei war.
Im Mai endete der Krieg. Hermanns Vater schrieb Briefe aus der Gefangenschaft. Seine Mutter und seine Großmutter führten eine kleine Pension, ein Fremdenheim, wie man es damals nannte. Die Fremden kamen größtenteils aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet, um zu hamstern, Schmuck gegen Butter, Kaffee gegen Brot, Seidenstrümpfe gegen Schinken zu tauschen. Obwohl Hermanns Familie zu jener Zeit selbst kaum etwas besaß, wurden die Gäste aus der Stadt, so gut es eben ging, bewirtet und erholten sich im sauerländischen Heilklima.
In Hermanns Elternhaus gab es einen kleinen Stall. In dem lebten Fanni, die Kuh, und eine schneeweiße Ziege mit dem höchst ungewöhnlichen Namen Anne Kathräng Knollesiefer. Margarethe hatte das Tier nach ihrer Lieblingsfigur aus einem Kinderbuch benannt. Später gesellten sich zwei weitere "Mitglieder" zur Familie. Ein Zwerghahn, der den Namen Hermännchen bekam, und ein Zwerghuhn, das fortan Margretchen hieß. Diese beiden hübsch gefiederten Tiere führten ein glückliches Leben rund um das Haus herum. Hermann und seine Schwester fütterten Hähnchen und Hühnchen und spielten mit ihnen, gingen sogar gemeinsam spazieren. Jeden Morgen wackelte und hüpfte das Federvieh fröhlich neben Hermann und Margarethe durch die Teichwiese und begleitete die Kinder zur Schule. Auf halbem Wege scheuchten diese Hermännchen und Margretchen wieder zurück nach Hause. Und abends, kurz vor dem Einschlafen, hüpfte Hermännchen auf das Eisen- gestell am Ende des Bettes, machte die Augen zu und schlief. Für den Fall, dass der Zwerghahn etwas "fallen" ließ, hatte Hermann vorsichtshalber einen Lappen unter das Eisengestell gelegt. Und so vergingen die Tage und Nächte mit Hermännchen und Margretchen. Man befand sich immer noch in der harten Nachkriegszeit. Lebensmittel waren auch auf dem Land nicht in Hülle und Fülle vorhanden, die Familien lebten von dem, was die Felder hergaben. Fleisch kam nur ganz, ganz selten auf den Tisch.
Ihr ahnt es bereits, nicht wahr? Es kam der Tag, ein besonderer Anlass, ein Sonntag oder gar ein Weihnachtsfeiertag, an dem Oma Johannette beschloss, Hermännchen und Margaretchen zu schlachten. Die Familie saß gemeinsam am Küchentisch und aß das Hähnchen und das Hühnchen. Als die Kinder nach dem Essen nach den gefiederten Freunden riefen, kamen sie nicht wie sonst um die Hausecke gehüpft. Die Kinder waren entsetzlich traurig. Ihre Mutter erklärte ihnen, dass Hermännchen und Margretchen gebraten worden waren, weil die Familie ansonsten kein anderes Fleisch zum Essen gehabt hätte. Aber Hermann und Margarethe ließen sich nicht trösten. Sie schworen sich, nie wieder einen Hahn oder ein Huhn zu essen. Bis an ihr Lebensende.
P.S. Diese Geschichte ist eine wahre Geschichte. Mein Vater Hermann ist 74, seine Schwester, die wir alle nur Margretchen nennen, 76 Jahre alt. Beide haben bis zum heutigen Tag - wissentlich - keinerlei Geflügel mehr zu sich genommen.