Meine Mutter
hatte mir neulich am Telefon erzählt, dass es Frau Kesper
gesundheitlich sehr schlecht ginge. Meine Mutter hat immer „Frau
Kesper“ gesagt, aus einer Art Respekt heraus hat sie unsere frühere
Nachbarin gesiezt, üblicherweise duzt man sich in meinem Heimatort
über mehrere Generationen hinweg. Meistens wird ein „Onkel“ oder
„Tante“ vor den Vornamen eines älteren Menschen gepackt, obwohl
man gar nicht verwandt ist. Für meinen unwesentlich jüngeren Bruder
und mich hieß die im Alter von 92 Jahren Verstorbene Oma. Oma
Kesper. In Willingen hatten wir nämlich keine Oma, die Mutter meines
Vaters war viel zu früh verstorben, ein Oberschenkelhalsbruch beim
Schneeschippen, Lungenembolie, aus.
Die Mutter meiner Mutter lebte sechzig
Kilometer von uns entfernt im ostwestfälischen Rixbeck. Deshalb
nannten wir sie „Oma Rixbeck“.
Oma und Opa Kesper wohnten fast
nebenan, nur ein jahrelang ungenutztes Grundstück lag zwischen ihrem
und unserem Haus. Kespers hatten eine Kfz-Werkstatt und eine
Esso-Tankstelle, wir ein kleines Hotel, somit waren fremde Leute
allgegenwärtig sowohl in der ihren als auch in der unserigen
Familie. Ich weiß nicht mehr, wann genau es angefangen hatte, dass
Thorsten und ich sonntags zum Frühstücken zu den Nachbarn gingen.
Wir müssen noch ziemlich klein gewesen sein, denn ich erinnere mich
an den Weg von unserem Haus über das Grundstück und vor allem die
kurze Böschung hinauf als kleines Abenteuer. Der Spaziergang zu Oma
und Opa war aufregend und geprägt von Vorfreude. Wir Kinder
entschieden uns, besonders früh bei unseren Nachbarn aufzutauchen,
um auf jeden Fall die Oma noch mit offenem Haar zu erwischen.
Normalerweise trug sie ihr Haar zum Dutt gesteckt, wenn wir aber
zeitig bei ihr klingelten, erschien sie im Morgenrock und mit langen
Haaren, die sie trotz ihrer grauen Farbe viel jünger erschienen
ließen. Nach einer freudigen Begrüßung ging es hoch ins
Schlafzimmer, in dem der Opa meistens noch schlief, bis wir ihn
weckten. Die Kinder von Oma und Opa Kesper waren damals noch jung.
Die Tochter hörte Langspielplatten mit Schlagermusik. „Mirell
Mattö“ rief ich, als ich die französische Sängerin erkannte.
Mein Bruder flitzte unterdessen in die
Speisekammer in der Küche und fand das Objekt seiner kulinarischen
Begierde: die Schmierwurst, eine Streichwurst. Wie eine Trophäe
hielt er sie hoch, hüpfte freudig von einem Bein aufs andere und
sang: „Die Schmierwurst, die Schmierwurst!“ Dass er sich diese
auf einer Scheibe Rosinenstuten wünschte, wurde leicht belächelt
und erfüllt.
Bei Oma Kesper schmeckte der Kakao
anders als das Nesquick bei uns zuhause. Sie rührte echten Kakao mit
Wasser an, ich schluckte den bittersüßen Trank eher aus Höflichkeit
und war stets froh, wenn ich das Jagdmuster auf dem Boden der Tasse
entdeckte.
Das Frühstück bei Oma und Opa Kesper
war einer der Höhepunkte der Woche. Das lag vor allem daran, dass
wir Kinder bei den Nachbarn ungeteilte Aufmerksamkeit bekamen. Die
Enkel von Oma und Opa waren damals nämlich noch nicht auf der Welt.
„Oma, hast du Süßigkeiten?“ Bei
uns zuhause gab es die eher selten.
„Oma, ich möchte Etebeten.“ Die
Erdbeeren aus Omas Garten schmeckten frisch gepflückt sogar mit Erde
dran.
Diese Erinnerung an das
Sonntagsfrühstück hatten wir immer wieder aufleben lassen, wenn wir
uns in den letzten Jahren sahen. Oft war das nicht, das muss ich
zugeben. Bei unserer letzten Begegnung hatte sich Oma Kespers
Augenlicht stark getrübt. „Ich hätte dich nit gekannt“, sagte
sie im Dialekt ihres Heimatdorfes. „Ich sehe ganz schlecht. Aber
schmecken tut´s mir noch.“ Wir saßen zusammen in der Küche, in
der sie in meiner Erinnerung am Fenster saß, um mitzubekommen, wer
auf den Vorplatz der Werkstatt fuhr, und aßen.
„Thorsten wollte
immer Schmierwurst. Und du hast durch das ganze Haus MIRELL MATTÖ
gerufen.“
„Und wir sind sonntags immer
besonders früh zu euch gekommen, damit wir dich mit offenem Haar
sehen können.“
„Ach ja? Das hab ich gar nit
gewusst.“
Oma Kesper wird heute beerdigt. Ich
werde Sie in lieber Erinnerung behalten.