Ich sitze gern im Café Goldregen. Die
Einrichtung ist schlicht, kleine Marmortische, eine dunkelgrüne
Lederbank, Wiener Caféhausstühle, knarrender Holzfußboden, auf dem
man neuerdings einen riesigen Orientteppich gelegt hat, aber selbst
der gefällt mir. Der Kaffee ist stark und gut. Es gibt keine
Schmaddertorten im Angebot, sondern solides Hausgebackenes, wie zum
Beispiel Käse-Mohn-Kuchen oder Schoko-Birnen-Kuchen. In einer
Vitrine liegen Spiele für Kinder und oben drauf bunte Magazine, für
deren Kauf ich zu knickerig bin, die ich aber sehr wohl lese, wenn
sie schon einmal da sind.
Meistens ist herrlich ruhig im
Goldregen, manchmal kann der Gast interessante Gespräche belauschen,
neulich gab es ein kleines Foto-Shooting von sehr hübschen jungen
Menschen, die Designschmuck trugen, der aussah wie aus bunten
Strohhalmen gebastelt.
Und letzten Sonntag hatte Ingeborg
Geburtstag.
Schon beim Betreten entdeckten mein
Freund und ich die Gruppe Frauen unterschiedlichen Alters, die drei
(!) der begehrten Tische an der dunkelgrünen Bank belegten. Wir
quetschten uns an einen Tisch am Fenster, und gerade als der Kuchen
serviert wurde, wurde ein Tisch an der Bank frei, also zogen wir um.
Wir aßen Käse-Mohn und blättern ein wenig in den Zeitschriften,
für die wir beide zu knickerig sind. Mein Freund schaute sich
Männermode in der „Mens Health – Fashion extra“ an. Als wir
gerade über einen Mantel, der aussah wie aus mehreren
Rote-Kreuz-Decken zusammengeflickt und zum ungesunden Preis von
10.800 Euro käuflich zu erwerben war, räusperte sich eine Dame
Mitte 60 und fragte, ob es in Ordnung sei, wenn sie und die anderen
Damen gleich ein paar Lieder singen würde. „Die Dame in der Mitte
ist heute 92 Jahre alt geworden.“ Sie zeigte auf eine kleine
hübsche Frau mit hellblauem Blüschen und moderner cremefarbener
Filzweste. Ihr immer noch sehr dichtes weißes Haar trug sie
kinnlang, ihre braunen Augen blickten unbestimmt in den Caféraum.
Meine Banknachbarin ging von Tisch zu Tisch und fragte, ob das Singen
genehmigt sei. „Die Dame dort drüben hat Geburtstag, sie ist heute
92 geworden.“
Einige der Damen in der
Geburtstagsrunde hatten Schnellhefter mit Liedtexten und alten Fotos
vom „Geburtstagskind“ in ihren Händen. Bevor die Lieder
angesetzt wurden, zeigte mir die Organisatorin der Feier ihr Heft und
deutete auf ein Foto, auf dem die 92jährige ungefähr 50 Jahre alt
gewesen sein musste. „Sie war Lehrerin. Sport. Sie können gerne
mitsingen und mit in meinen Text gucken.“ Mein Partner wies
freundlich darauf hin, dass er nicht mitsingen würde, nicht aus
Unhöflichkeit, seiner furchtbaren Stimme wegen.
Zunächst sangen wir „Viel Glück und
viel Segen“, dann „zum Geburtstag viel Glück“. Währenddessen
blätterte Reiner in seinem Magazin und wies auf diese Schuhe und
jene, alle zu unfassbaren Preisen, die mich beinahe hätten nach Luft
schnappen lassen. Aber die brauchte ich ja zum Singen. Nun folgten
ein paar alte Volkslieder. „Die Gedanken sihind frei, wer kann sie
erraten? Sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten...“ Ich freute
mich, dass ich mich zumindest noch an die erste Strophe erinnern
konnte und beobachtete die 92jährige, die ins Nichts guckte. Ihre
Lippen bewegten sich stumm zu allen Strophen, und sie freute sich.
Genauso verhielt es sich bei „Hab mein Wage vollgelade“ und „im
Frühtau zu Berge“. „Sie kennt wirklich alle Texte“, sagte ich
zu der Frau, die neben mir auf der dunkelgrünen Lederbank saß. „Ja.
Sie singt zwar nicht laut mit und sie ist fast blind, aber weil sie
früher diese Lieder so gern gesungen hat, dachte ich, wir singen ihr
etwas vor.“
Ich singe mehr schlecht als recht und
fand die Situation im Café, das gemeinsame Singen mit der
Geburtstagstruppe, der Bedienung, das Brummen des jungen Mannes am
Nachbartisch und das Deuten meines Freundes auf Bilder in seiner
Zeitschrift so, als säße ich in einer Filmszene. Ein bisschen
bekloppt, aber schön. Während wir sangen, dachte ich an „Das
große Liederbuch“ mit den Zeichnungen von Tomy Ungerer, das ich
als Kind besaß. Und an meine Oma, die mir immer Lieder aus der
Mundorgel vorgesungen hatte. „In einen Harung, jung und schlank,
zwo, drei, vier, ssssst-ta-taaa, tirallala“. Für einen kurzen
Moment hatte ich das Gefühl, das alle Besucher des Café Goldregen
sehr zufrieden, vielleicht sogar glücklich waren.
Und deshalb schreibe ich das, was ich
letzten Sonntagnachmittag erlebt habe, auf.
Wieviele glückliche Momente erlebt man
schon?