20. März 2014

Mach mich ma ein Fernet

Ach du Scheiße, der Nowak. Mein Zug hält in Duisburg Hauptbahnhof. Er hält immer in Duisburg Hauptbahnhof, wenn ich von Düsseldorf aus zu meinen Eltern ins Ostwestfälische fahre. Ich habe noch nie an den Nowak denken müssen. Warum denke ich jetzt an den Nowak? Wenn ich Nowak denke, muss ich Düsburch sagen.

Mein Vater saß oft in seiner Kochuniform, einer weißen Jacke mit schwarzen runden Knöpfen und einer Hose mit Pepitamuster, mit einer Pobacke auf der Arbeitsplatte in unserer Küche. Auf diese Weise konnte er aus dem Fenster auf die Straße und unsere Einfahrt gucken, während er Kartoffeln schälte. Berge von Kartoffeln. Wenn ich an die Zeit zurückdenke, als meine Eltern ihr kleines Hotel betrieben, sehe ich Papa Kartoffeln schälen.  Mein Vater schälte also Kartoffeln und schaute von seinem Sitzplatz aus nach draußen auf den verschneiten Hochsauerländischen Hotelparkplatz und erblickte einen Mann mit Goldrandbrille und halblangem grauen Haar. Dieser trug einen Fuchspelzmantel und schlitterte auf Slippern die Einfahrt hinunter. Papa seufzte „Ach du Scheiße, der Nowak“ und „Ja, dann muss ich wohl."

Der Nowak schleppte seine Koffer niemals selber. Früher war der Nowak immer mit seiner Gattin gereist, einer Frau mit leuchtend weißer Haut und puffmutterrotem Haar. Er hatte sie, dies wussten wir von einem befreundeten Ehepaar der Nowaks, jahrzehntelang betrogen, was ihn nicht davon abhielt, nach ihrem Ableben eine dramatisch triefende Anzeige aufzusetzen und sich beinahe bei der Beerdigung in das offene Grab zu stürzen. „Wat für ne Heuchelei. Der hat doch alles flachgelecht, wat nich bei 3 aufm Baum war, der olle Lustmolch!“ Nun machte der Nowak, den gleichermaßen eine Aura von Intellekt und Liederlichkeit umgab, allein Ferien bei uns. Wobei, so ganz allein war er nicht. Auf Zimmer 9 wohnte Frau Stolzenberg, eine seit Mutti tot ist alleinreisende Dame.

„Nächster Halt, Essen Hauptbahnhof.“ Ich denke an die Piechowiaks. Gäste, die wie viele andere in der Weihnachtszeit kamen und den familiären Anschluss schätzten. Er war Taxifahrer und hatte Tag und vermutlich auch Nacht seine dunkelblaue Prinz-Heinrich- Mütze auf dem Kopf. Seine kleine blondgelockte Frau arbeitete in einer Videothek. Als die Piechowiaks zum ersten Mal Ferien in unserem Hotel gemacht hatten, war er geradewegs durch in unsere Hotelbar gegangen, noch während seine Frau die Anreiseformalitäten mit meiner Mutter erledigte. Ich war 12 und zapfte ihm ein Bier. „Und noch einen Wacholder, aber´nen doppelten.“ Nun sagte Herr Piechowiak vorerst nichts mehr, er fing leise an zu weinen. Ich kann mich noch gut an meine Hilflosigkeit in jenem Moment erinnern. „Mach mir noch einen. Scheißweihnachten. Kann mir gestohlen bleiben, dieses Weihnachten. Unser Sohn hat sich im Oktober aufgehängt. Hat keinen Brief hinterlassen, der Blödmann.“ Weinen und Lachen lagen nah beieinander im Gästehaus am Kurgarten.

Der Schleicher, das fällt mir ein, als wir aus dem Essener Hauptbahnhof herausfahren, der kam aus Essen. Dieser Mann hatte von allem zu viel. Er war zu braun, zu laut, zu selbstbewusst. Seine Goldkettchen waren zu dick, sein weißer Tanga, in dem er sich auf unserer Terrasse bräunte, zu knapp. Zu unser aller Erleichterung befand sich die Terrasse hinter dem Haus. Aber auch vor den Kulissen sorgte Herr Schleicher für Aufsehen. Er quatschte gern. Am liebsten übernahm er Gärtnertätigkeiten für meine Eltern, jedoch nicht die, die Arbeit machten, die aber keiner sah. Nein, Unkraut zupfen mochte er nicht. Lieber schnitt er mit einer Motorsäge auf den Bürgersteig überstehende Zweige unserer Büsche ab und ging mit einer Schubkarre die Einfahrt hinauf und hinunter. So kam er mit den Passanten ins Gespräch, vor allem mit den weiblichen. „Ach, wissense, ich helf dem Hermann ein bisschen, der hat ja so viel umme Ohren.“ Den flanierenden Urlauberinnen präsentierte er seine Bräune und seine Muskeln. „Hart wie Kruppstahl, könnense ruhich ma dran packen.“ Der Schleicher hatte ein Rheinschiff geerbt. Es gab ein paar entfernte Verwandte, die richtig neidisch waren und mit ihm um das Erbe prozessierten. Unser Gast hatte einen Plan entwickelt: Er haute das Geld einfach schnellstmöglich auf den Kopf, zum Beispiel mit seinen Urlauben, die er mehrmals im Jahr bei uns verbrachte. Er gönnte sich Massagen im ortsansässigen Kurmittelhaus und ließ seine grobporige Haut aufwendig durch Behandlungen mit Stutenmilch verwöhnen. Wenn ich Essen denke, denk ich an den Schleicher und seinen braunen faltigen Hintern im weißen Tanga. Gut, dass wir nun in Bochum angekommen sind.

Die Mariannes kamen aus Bochum. Marianne B. und Marianne H.. Zwei befreundete alleinstehende Damen, großzügig und trinkfreudig. Nachdem Essen forderte Marianne B.„Gezz mach mich ma ein Fernet, Hermann.“ Unsere Gäste aus dem Pott mochten meinen Vater und duzten ihn aus lauter Sympathie. Mein Vater mochte den Pott, hatte er doch viele Jahre in der Dortmunder Stade-Brauerei gearbeitet, und duzte zurück. „Boah, dat war wieder lecker, wat du gekocht hast. Ich brauch erstmal ein Verteiler.“ Mein Vater hatte sehr gut gekocht. Die Mariannes verteilten und verteilten und spielten 17 und 4. Während der Zug aus dem Bochumer Hauptbahnhof fährt, überlege ich, an wen mich Marianne B. und Marianne H. erinnert haben. Ich komme jetzt nicht darauf. Eines Tages reiste Marianne H. ohne Marianne B. zu uns, sie hatten sich zerstritten. Und später, da hatten andere Gäste unserer Pension sie einmal mit zwielichten Personen in einer Kneipe in der Nähe vom Hauptbahnhof gesehen. „Das war nicht das feinste Menschenmaterial, wennse verstehen.“ Und irgendwann später starb Marianne B., einsam, ohne Mann, ohne Familie. Jahre danach starb auch Marianne H. Irgendwann starben sie alle. Die Spezies  zufriedene dankbare Gäste war vom Aussterben bedroht.

„Nächster Halt, Dortmund Hauptbahnhof.“ Bei Dortmund denke ich an die Borussia, klar. An meinen Vater, der jahrelang dort gearbeitet hatte, an sein Kofferradio mit nur einem Sender, das er damals besaß. Mein Zug hält lange in Dortmund. Der Personalwechsel kann nicht stattfinden. Ein Zugführer fehlt.

„Herr Dressler ist da, begrüß ihn bitte.“ Meine Mutter legte Wert darauf, dass sich unsere Gäste wohl fühlten. Deshalb sollten wir Kinder die Stammgäste begrüßen. Wir lagen vor dem Fernseher und guckten Tim Thaler und mussten Gäste begrüßen. Auch wenn es meinem Bruder und mir gerade gar nicht passte. Das Begrüßen war nicht immer zu unserem Schaden. Bücher, Erfrischungsstäbchen, Katzenzungen waren beliebte Mitbringsel unserer Gäste. „HALLO, HERR DRESSLER. WIE WAR IHRE FAHRT?“ Bei Herrn Dressler musste man schreien. Er hörte schlecht. Zuletzt war er stocktaub, 90 Jahre alt und fuhr dennoch mit seinem metallicgrünen Opel Rekord von Dortmund aus in das Hochsauerland. Seine Frau war schon lange verstorben und sein Enkel, der die Großeltern immer begleitet hatte, zu alt für einen Urlaub mit Opa.. Er war ein feiner blasser Mann mit dünnem Haar und er sächselte ein bisschen, weil er ursprünglich aus Dresden kam. In unserem Wohnzimmer in den oberen Etagen des Hauses konnten wir das Fernsehprogramm mitverfolgen, das sich Herr Dressler im Fernsehzimmer eine Etage tiefer.ansah. Wir mochten Herrn Dressler und als er starb, waren wir ehrlich traurig, obwohl wir nicht mehr schreien mussten.

Vor 20 Jahren haben meine Eltern das Hotel im Hochsauerland verkauft. Meine Eltern zogen in die frühere Heimat meiner Mutter nach Ostwestfalen. Sie bekommen an Weihnachten immer noch Post von früheren Gästen, die guten alten Zeiten nachtrauern. Ich erinnere mich noch an die Streitereien hinter den Kulissen, an die Sorgen und Nöte meiner Eltern, an den Mikrokosmos Gästehaus am Kurgarten. Unsere Gäste waren Teil unserer Familie, wir fühlten uns oft wie bei einem permanenten Verwandtenbesuch. Manche Verwandte mochten wir sehr und manche weniger.

Wenn ich in alten Fotoalben blättere, sehe ich Bilder, die in den vielen Jahren, die unser Hotelbetrieb existierte, aufgenommen wurden. Mein Bruder und ich mit Gästekindern beim Ostereier suchen im Schnee. Mein Vater, der eine Bowle mit Kellergeister und Dosenpfirsichen ansetzt. Meine Mutter und meine Tante, die mit Gästen vor unserem Springbrunnen stehen und gegen die Sonne anblinzeln. Ich als Kleinkind an der Hand einer unverheirateten Krankenschwester aus Essen-Kettwig. Meine Mutter an Silvester mit lauter Frauen, die Luftschlangen um den Hals und lustige Hüte auf den Köpfen tragen und sich mit Sekt zuprosten. Marianne B. und Marianne H.

Sie sehen aus wie Diether Krebs in Frauenklamotten. 

Jetzt, am Bahnhof Hamm (Westf), fällt es mir wieder ein.





Alle Namen wurden von mir geändert.