14. März 2014
Der Glückskekszettel-Dichter
Hannes hatte die Nase voll. Schon nach wenigen Tagen hatte sein neuer Job ihn den letzten Nerv gekostet. Die Internetsuche nach Sinnsprüchen und Weisheiten, bevorzugt asiatischer Herkunft, hatte sich als mühsam erwiesen. Tom hatte ihn auf die Stellenausschreibung in dem Hannoveraner Lebensmittelkonzern, für den er als Chemiker tätig war, aufmerksam gemacht. „Du suchst doch dringend Arbeit. Okay, die FAZ ist es nicht, du wärest dann für die Glückskekse zuständig. Du bist doch Journalist und so kreativ, Mann.“ Tom war sein Freund. War Tom sein Freund?
„Jedes Versprechen ist ein Geschenk im voraus.“ Den hatten sie schon in der Datei für die Glückskekszettel. Hannes verdrehte die Augen. Diese Textsuche hatte nichts mit den Recherchen zu tun, die er früher unternommen hatte. Seine Bewerbungen bei verschie- denen Redaktionen waren entweder unbeantwortet geblieben oder regelrecht abge- schmettert worden. Ein Redakteur versicherte ihm, er würde nie wieder für ein renommiertes Blatt schreiben dürfen, nachdem, was passiert sei. Tom fragte nach Hannes´ Date vom Wochenende. „Die Sandra war hübsch, sehr hübsch sogar. Aber als ich sagte, dass ich zur Zeit Texte für Glückskekse aus dem Netz fische, hatte sie es plötzlich am Magen und stöckelte davon. Ich habe keine Lust mehr auf diese Onlinebekanntschaften, dabei kommt nichts herum.“ Tom widersprach. Er hatte das große Glück in einem Partnerforum gefunden. Also, in dem, in dem er sich regelmäßig mit Unbekannten zum Sex verabredete. „Du kannst nicht andere überzeugen, während du dir selbst nicht sicher bist.“ Hannes checkte die Datei. Bingo. Den Spruch hatten sie noch nicht. Copy und paste und wieder war er einen Schritt weiter. Pro Weisheit, die noch nicht in der Sprüchedatei vorhanden war, gab es 10 Euro. Der Tag wollte kein Ende nehmen. Seine Augen tränten, er brauchte eine Brille. Und er brauchte das Geld. Dringend. Deshalb arbeitete er so lange es möglich war. Zuhause wartete niemand außer seiner Molly. Dina hatte die Katze zurückgelassen, als sie vor acht Monaten gegangen war. „Marc hat eine Katzenhaar- Allergie.“
Marc war Dinas neuer Freund, von dem sie ihm aber erst erzählte, als er seinen Job verloren hatte. Irgendwie war das nicht sein Jahr gewesen. Job weg, Frau weg, nur eine dicke alte Katze war geblieben. Und die Glückskekse. Die Weisheitensuche machte ihn wahnsinnig, er träumte schon davon. „Zufriedenheit ist der Stein der Weisen.“ Wenn er aufwachte, notierte er sofort, die Sprüche, die ihm den Schlaf raubten, auf dem Notizblock auf seinem Nachttisch. Dabei blickte er oft auf die leere Seite seines Bettes. „Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt.“ Da lag Hannes nun mit seinem halben Glück und versuchte zu schlafen.
Das Jahr, das schlechte Jahr, wie Hannes es nannte, ging seinem Ende entgegen. Immerhin, Tom hatte ihn zu seiner legendären Silvesterparty eingeladen. Dieses leidige Thema war also abgehakt. Frauen, viele Frauen, schöne Frauen, hatte Tom ihm in Aussicht gestellt. Er kapierte nicht, dass Hannes etwas anderes suchte. Eine Frau, mit der er lachen konnte. Eine, die nicht in die Nacht entschwand, wenn er seine Arbeit als Glückskeks-zettel-Dichter erwähnte. Im Grunde genommen war er kein Dichter, er war ein Glückskekszettel-Sprüchesucher. Und im Moment war ein wenig betrunken. Tom hatte ihn zu einem Glühwein in der Mittagspause überredet. Aus einem waren drei geworden, mit Schuss. Hannes hätte sich gern ausgeruht, setzte sich stattdessen an seinen Schreibtisch und begab sich auf die Suche nach Inhalten für das chinesische Süßgebäck. Er las „Erfolg ist zu erreichen, was man sich wünscht. Glück ist sich zu wünschen, was man erreicht.“ In Hannes Kopf drehten sich die Worte wie in einem Kettenkarussell. Was sollte der Quatsch? Glück ist sich zu wünschen, was man erreicht. Er wünschte sich Glück. Er wünschte sich Liebe. Das waren klare Aussagen und kein interpretierbarer Sinnspruch.
„Ich wünsche mir Glück. Ich wünsche mir Liebe“, gab Hannes in die Datei ein. Ha, das war noch nicht hinterlegt. Hannes Herz hüpfte in übermütiger Freude. Er wollte keine Sprüche mehr im Netz suchen und mit der Datei abgleichen. Er wollte selber texten. Das war vor dem unsäglichen Interview mit Walser seine Aufgabe gewesen. Hannes schrieb weiter. „Ich möchte nicht mehr alleine sein und suche eine Frau, die gern in Programmkinos geht, Waldspaziergänge mag und gerne lacht.“ Ein Dateiabgleich war überflüssig. Er fuhr fort. „Ich liebe es, im Regen spazieren zu gehen. Ohne Schirm. Du auch?“ Ja, jetzt machte das Texten Spaß. Hannes stellte sich vor, wie eine tolle Frau, die aus unerfindlichen Gründen genauso einsam war wie er, bei einem China-Taxi ihr Lieblingsgericht bestellte und den obligatorischen Glückskeks öffnete, obwohl sie ihn nicht mochte, weil er viel zu hart und viel zu süß war. Eine Woche später musste Hannes zu seinem Chef kommen. „Was soll der Mist?“ rief Herr Dr. Klein und las einen Glückskekszettel vor. „Wenn du auch einfach mal wieder lieben und lachen willst, dann schreib an hannes@erinnertsichanliebe.com."
Herr Dr. Klein regte sich furchtbar auf. Er hätte die Glückskekse für seine persönlichen Zwecke benutzt. 1.500 Kekse seien in Produktion gegangen, man hätte versucht, diese zu stoppen. Das würde Geld kosten, Geld! Solch ein Verhalten akzeptiere er nicht. Hannes sei entlassen, er könne sich sofort die Papiere in der Personalabteilung abholen.Hannes holte sein Laptop, seinen Rucksack aus seinem Büro und ging. Tom rief hinter ihm her, es täte ihm leid und sie würden sich spätestens an Silvester sehen.
Vier Wochen später saßen am Silvesterabend in einer ostwestfälischen Kleinstadt neun Menschen unterschiedlichen Geschlechts in einem Wintergarten und unterhielten sich über zwei Fonduetöpfe hinweg. Unter ihnen befand sich Anne, sie machte aus der geraden Anzahl eine ungerade. Sie war zur Zeit der einzige Single im Freundeskreis, die Nummer 9 am Tisch, und saß vor Kopf. "Damit alle mich anstarren können", dachte sie und fischte mit der blauen Gabel (blau war ihre Lieblingsfarbe) nach ihrem Stück Fleisch, das zwischen den anderen Gabeln im Fett schwamm. An Fondue konnte sie sich hungrig essen. Zum Glück hatte sie Curry-Dip und Brot mitgebracht, beides sättigte halbwegs. Anne hatte sich nicht getraut, ihre Teilnahme an der privaten Silvesterfeier abzusagen. Am liebsten hätte sie es sich einfach mit der 1. Downton Abbey-Staffel vor dem Fernseher gemütlich gemacht, Spaghetti gegessen und ein Glas Rotwein getrunken. Sie war mehr als froh zu erfahren, dass der männliche Single, ein Kollege von Klaus, kurzfristig an Bronchitis erkrankt war. Die letzten Silvesterzusammenkünfte waren eher peinlich gewesen, zu offensichtlich erschien der Wunsch der Freunde, Anne endlich wieder unter die Haube zu bringen.
Nachdem die Fondue-Sets abgeräumt waren, sagte Maren, die mit Anne im Sekretariat des Verlages arbeitete: "Dieses Jahr verzichten wir auf das Bleigießen." Die männlichen Partyteilnehmer atmeten auf. Nun konnten sie sich gleich auf das Zelebrieren ihrer Feuerzangenbowle konzentrieren und mussten vorher nicht diesen Weiberkram durchziehen. "Stattdessen dachte ich, ich verteile einfach ein paar Glückskekse. Unser China-Mann hat uns reichlich davon mitgebracht, als wir das letzte Mal bei ihm bestellt hatten." Maren warf die in Gold verpackten Süßigkeiten auf den langen Tisch. Die Männer stöhnten, rissen aber lustlos die Folie auf, weil sie wussten, dass es ohne den Weiberkram nicht losgehen konnte mit der Feuerzangenbowle. Anne mochte keine Glückskekse, weder den Geschmack noch den Inhalt. Asiatische oder sonstwelche Weisheiten, schlecht von Übersetzungsprogrammen ins Deutsche übertragen. "Das Leben meistert man lächelnd oder überhaupt nicht." Aha. Anne lächelte gern in sich hinein. Gut, jetzt gerade nicht, weil Klaus seinen Fuß unter dem Tisch an ihrem nylonbestrumpften Bein rieb. Sie drehte die Knie ein wenig nach links und Klaus Fuß landete auf Paula, Marens Katze. "Hier, Anne, hier ist noch ein Glückskeks übrig. Den darfst du auch noch aufmachen. Du kannst von uns allen am meisten Glück gebrauchen." Woher nahm Maren nur diese Überheblichkeit? Mit der linken Hand hatte Anne gerade den ersten Glückskeks für Paula zerbröselt (die Dinger waren viel zu hart und viel zu süß) und nun öffnete sie den zweiten. Sie zerbrach den dünnen hellbraunen Teig und zog den weißen Zettel langsam heraus.
"Wenn du auch ein- fach mal wieder lieben und lachen willst, dann schreib an hannes@erinnertsichanliebe.com" Anne blinzelte und las die Worte auf dem schmalen Stück Papier noch einmal. Ihr Herz raste, ihr Magen senkte sich. "Na, was rät dir denn Konfuzius oder Laotse?" griente die Freundin, deren Mann gerade unter dem Tisch Kontakt zu ihr aufgenommen hatte. "Warum bist du denn plötzlich so blass?" fragte Marens Schwester Isabelle. Anne murmelte, dass es ihr nicht gut gehe, der Magen, vielleicht das viele Essen nicht vertragen, sie müsse nach Hause, es täte ihr leid. Schnell warf sie ihren Tweed- mantel über und ging.
Am Neujahrsmorgen hatte Hannes einen schweren Kopf. Er schaute neben sich ins Bett und war froh, dass er dieses Mädchen heute Nacht hinausgeworfen hatte. Um Mitternacht hatten sie ein bisschen geknutscht. Er war Alessandra ("wie die Ex vom Pocher") nur sehr schwer losgeworden. Bis an die Haustür hatte sie ihn begleitet und signalisierte ihm durchaus den Wunsch nach mehr. Woher sollte sie wissen, dass dieses offensichtliche sexuelle Anbiedern ihn mittlerweile eher abstieß als anmachte. Er schaffte es tatsächlich, ein Taxi für sie zu bekommen, warf sich nach ihrem beleidigten Abgang mit Kleidung und Schuhen auf sein Bett und schlief sofort ein. Sein Smartphone meldete Hannes den Eingang mehrerer Emails. Die erste war von Tom. Er erkundigte sich, ob die kleine Blonde noch da sei und ob sie zusammen "schön ins Neue Jahr gevögelt hätten" Hannes hatte keine Lust seinem Freund zu antworten. Sein Bruder hatte ihm aus Los Angeles ein frohes Neues gewünscht. Ein Kreditkartenunternehmen beglückwünschte ihn zu den niedrigen Zinsen, mit denen er 2013 frohgelaunt beginnen können würde. Mehr aus Gewohnheit als aus wirklichem Interesse ging Hannes auf den Posteingang der Seite, die er sich nach seiner Kündigung von Dr. Klein eingerichtet hatte. Offensichtlich war die Produktion der Kekse mit den selbsterdachten Glückskekssprüchen erfolgreich gestoppt worden, denn er hatte in den letzten Wochen keine einzige Mail an seine spezielle Adresse erhalten. Er glaubte alkoholbedingt nicht richtig zu sehen. In den Posteingängen stand eine 1. Eine 1. Eine Person musste einen Glückskeks mit seiner Aufforderung gelesen und ihm geschrieben haben.
Hannes Herz schlug wild, als er auf die Enter-Taste drückte. Die Absenderin (Hannes hoffte auf eine SIE) war eine a.hoffmann1973, woraus er Namen und mögliches Geburtsdatum ableitete. Der Betreff hieß "Lachen und lieben in 2014". Das las sich schonmal gut. Hannes öffnete die Mail.
Hallo Hannes (sie heißen doch Hannes, alles andere macht keinen Sinn),
Sie ahnen es sicher: Ich habe Ihren Glückskeks geknackt und Ihre offenherzige Nachricht gelesen. Danke dafür, vor allem, weil sie mich von einer todlangweiligen Pärchenparty gerettet haben. Aus lauter Höflichkeit wäre ich sonst noch länger geblieben, hätte Feuerzangenbowle trinken und den Mann meiner Freundin abwehren müssen und wäre heute morgen mit einem Kater aufgewacht. Besonders gut geschlafen habe ich nicht, sondern lange wachgelegen und überlegt, ob ich Ihnen schreiben soll. Wer weiß denn schon, wie viele von diesen Nachrichten deutschlandweit in Glückskeksen unterwegs sind? Vielleicht trauen Sie sich zu antworten. Das würde mich freuen. Auch des Lachens und Liebens wegen, aber nur, wenn Sie es ernst meinen damit. Ansonsten leben Sie wohl, Sie Glückskekszetteldichter, Sie. Liebe Grüße, Anne
Hannes lächelte und antwortete:
Liebe Anne,
Sie sind meine Nr. 1. Sie haben nämlich als erste und einzige Person auf meine Nachricht reagiert. Mein Ex-Chef hat nicht nur versucht, die Produktion der Kekse mit dieser Nachricht zu stoppen, er hat mich auch entlassen. Das ist nun schon die zweite Entlassung in diesem Jahr. Die erste erhielt ich im Mai, weil ich Martin Walser trotz ausdrücklichen Verbots in einem Interview auf Günther Grass angesprochen habe. Ich bin arbeitsloser Journalist, nur dass Sie gleich Bescheid wissen. Mittellos bin ich aber nicht, ich habe eine Eigentumswohnung in Hannover. Da sind wir gleich beim nächsten Thema. Wo wohnen Sie eigentlich? Sagen Sie nicht, in München. Oder in Bandar Seri Begawan. Ein Kaffee wäre doch schön. Oder bin ich Ihnen zu schnell? In untertänigster Erwartung Ihrer Antwort verbleibe ich …
Hannes
P.S. Weiß Ihre Freundin von den Annäherungsversuchen ihres Gatten?
Lieber Hannes,
ich schreibe „lieber Hannes“, weil ich es gut finde, dass Sie Tacheles reden. Mit meiner Freundin habe ich noch nicht Tacheles geredet. Ihr Mann und sie hatten erst vor einem Jahr eine Ehekrise und Sie wissen doch sicher, wie das ist. Nachher ist die Überbringerin der schlechten Nachricht die Doofe, also ich. :-) Hannover? Sie wohnen in Hannover. Ich wohne im nicht minder pulsierenden Rheda-Wiedenbrück, besitze einen kleinen alten VW Polo und habe keinen Restalkohol in mir.
Bin ich Ihnen nun zu schnell?
Lieben Gruß, Anne
P.S. Wo zum Teufel liegt Bandar Seri Begawan? Oder muss ich erst googlen?
Anne,
Sie machen mir eine unglaubliche Freude, wenn Sie sich tatsächlich in ihren kleinen alten Polo setzen und Gas geben. Laut Routenplaner werden Sie dazu 1 Stunde und 24 Minuten brauchen. Zeit genug für mich, mittels einer kalten Dusche und zwei Aspirin in einen annehmbaren Zustand zu gelangen. Wir treffen uns am besten in um 14 Uhr im Café am Maschsee. Wäre das okay für Sie? Haben Sie ein Smartphone, über das wir kommunizieren können? Woran erkenne ich Sie?
Mit vor Aufregung tobendem Herzen,
Ihr Hannes
P.S. Bandar Seri Begawan ist die Hauptstadt von Brunei.
Lieber Hannes,
Sie erkennen mich an der Tankstellen-Nelke in Cellophan, die ich mir unter den Arm klemmen werde. Falls die Blumen am Neujahrstag ausverkauft sind, erkennen Sie mich an meiner lila Strickmütze (ich hoffe, Sie haben nicht´s gegen lila, es gibt Männer, die Probleme mit lila haben). Und ja, ich habe ein Smartphone. Wir werden uns finden. Versprochen. Bis um 2 in Hannover, Ihre Anne
P.S. Das mit dem Siezen hat was. Das sollten wir mindestens bis zur Silberhochzeit beibehalten.
Liebe Anne (bin fast geneigt, liebste Anne zu schreiben),
Ihre Mail macht mir Hoffnung. Erst versprechen Sie mir, dass wir uns finden werden. Und dann versprechen Sie mir die Ehe gleich mit. Schön. Sie erkennen mich übrigens an dem Grinsen im Gesicht und an dem Glückskeks auf meinem Tisch (irgendwo hab ich noch einen von den Dingern rumfliegen).
Bis gleich, ich freue mich, Hannes
Hannes,
bevor ich mich in meinen Polo schwinge, hier noch mein Neujahrsgedicht für Sie:
Amors Pfeil trifft immer dann,
glaubst du nicht mehr an ein´Mann.
Das ist nicht von Konfuzius, das ist von mir.
Bis gleich!