22. November 2015

Der Mann mit dem Kind mit dem Vogel auf dem Kopf


Mercado Bolhao, Porto.

Unsere Reiseleiterin Isabel hatte darauf hingewiesen, dass in den Markthallen gebaut wird, wir sie uns dennoch ansehen würden. Ein Tripadvisor-User kommentiert diese auf Platz Nr. 61 von 158 positionierte Sehenswürdigkeit Portos so: "Eigentlich gibt es noch alles hier, und auffallend ist, dass an den meisten noch vorhandenen Ständen von älteren Damen 'die Stellung gehalten wird'. Sicherlich hat diese Markthalle bessere Zeiten gesehen, aber sie ist immer noch einen Besuch wert und bietet alles an frischem Gemüse, Obst Fisch und Fleisch und 'lebt noch' (...)".

Bessere Zeiten gesehen hat in der "Hauptstadt des Nordens" einiges. Die große Wirtschafts- krise hat Portugal nicht umgangen, schon gar nicht die ehemalige Arbeiterstadt Porto, die gern als stolze Metropole bezeichnet wird. Trotzdem: Ich hatte mich am Vorabend bei der Zufahrt über eine der vielen Brücken in diese Stadt verliebt, als ich auf die Lichter in den Häusern an den Hängen des Douros schaute. Im Tageslicht, das hart auf die leerstehende Geschäfte und abgeblätterten Fassaden schien, gefiel mir die Stadt immer noch. Das Heruntergekommene wechselte sich ab mit Feinkostläden, alten Kaffeehäusern und stylishen Bars.


 
 
 
 
Porto ist eben wie das Leben. Es ist nicht immer schön, es läuft nicht immer schnurgerade. Es hat Höhen und Tiefen. Ich fühlte mich mit dieser Stadt von Anfang an verbunden.

Wir waren schon durch einige Straßen gebummelt, als wir vor den Hallen des Mercado Bolhao standen. Im Eingangsbereich ging es nicht richtig vorwärts, weil Menschen stehen blieben und schauten.

Sie schauten auf einen Mann mit einer grünen Kappe, der auf einem Mäuerchen saß und einen Leierkasten spielte.
Neben dem Mann saß ein Kind, wohl fünf bis sechs Jahre alt.
Und auf dem Kopf des Kindes saß ein Vogel.

Das Kind hatte blonde ungekämmte Locken und in diesen blonden Locken drehte sich der gelbgrüne Vogel in alle Richtungen. Er schien sich zu verbeugen.

Ich stutzte und blieb stehen. 
"Wie süß", sagte eine Kollegin aus meiner Reisegruppe.
"Hast du gesehen, das Mädchen hat einen Vogel auf dem Kopf", fragte eine andere.
Mein erster Impuls war, dies alles ebenfalls süß zu finden.

Die wunderlichen Melodien aus dem Leierkasten trafen mich mitten ins Herz, der Mann mit seiner Kappe und seinem Vier-Tage-Bart wirkte wie ein Bänkelsänger und bei dem Kind rätselte ich, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte. Es saß da und ließ sich weder von den Touristen, die es anstarrten, noch von dem Tier auf seinem Kopf irritieren und schrieb hochkonzentriert Buchstaben in ein Heft. Als schließlich die Sonne hinter den Wolken hervorkam und auf diese kleine Familie schien, war ich bezaubert.

So bezaubert, dass ich ein 2-Euro-Stück in den Teller am Boden warf.
So bezaubert, dass ich unbedingt ein paar Bilder machen wollte.

Als ich fragte, ob es okay sei "to take some pictures", nickte der Mann kaum merklich.
Das Kind mit dem leicht verfilzten Haar fragte seinen Vater etwas, radierte einen Buchstaben aus und schrieb dann wieder weiter.



Es war Mittwoch und ich fragte mich, ob das Kind nicht in einen Kindergarten oder in eine Schule gehen müsse, anstatt hier mit seinem Vater vor einer Touristenattraktion zu sitzen und zu betteln. Ja, betteln. Der Mann bettelte um Geld, er spielte nicht zum Vergnügen hier. Und überhaupt, das wirklich süße Kind mit dem Vögelchen auf dem Kopf, das half dem Mann ja prächtig, die Portemonnaies der Menschen zu öffnen. Dass es dabei in ein Heft schrieb, sollte wohl den Eindruck erwecken, er bringe seinem Nachwuchs etwas bei, während man hier vor den Markthallen saß.
Wo war die Mutter? Saß sie vor einer anderen Sehenswürdigkeit?

Mich erinnerte der Vater und sein Kind an fahrendes Volk, das von Stadt zu Stadt zog wie ein Zirkus. Eine Familie ohne Wurzeln, die aber alles andere als unzufrieden oder gar unglücklich schien. Diese Menschen waren die Ruhe selbst.

Das Kind stellte seinem Vater, der seinen Leierkasten spielte, wieder eine Frage. Er antwortete. Sie sprachen Französisch und er schaute voller Liebe herab auf das blonde Haar.

Ich dachte nach und wurde ärgerlich. 
Richtig ärgerlich.
Ich ärgerte mich über mich.

Was ging mich das an, was diese Leute bewegte, auf diese Art ihr Geld zu verdienen?
Womöglich war das Kind nicht schulpflichtig, womöglich gab es keine Mutter.

Ständig musste ich Dinge hinterfragen. Grübeln. Analysieren.
Statt einfach nur einmal zu schauen und bezaubert zu sein.
Statt Geld in den Teller zu werfen und mich zu freuen.
Oder eben kein Geld zu geben.

Ich ging mit meiner Gruppe in die Markthallen, die wirklich bessere Zeiten gesehen hatten, und atmete tief den Duft von Bacalhau und Sardinen ein.

Als ich wieder heraustrat, saßen der Mann mit der Kappe und das Kind mit dem Vogel immer noch am selben Platz. Das Kind schrieb nun Zahlen in ein Heft. Kurz blieb ich stehen und lächelte.

Der Leierkastenmann lächelte zurück, was mich glücklich machte.
Ich weiß auch nicht, warum.