21. Juli 2017

Ich glaub, ´ne Gemse werd´ ich nie


Endlich wieder im Allgäu.

Das Gewusel am Gleis 3 des Oberstdorfer Bahnhof konnte meine Freude nicht trüben.
Schon hier genoss ich die frische Luft, mit der sich meine Lungen füllten.
Jauchzet, ihr Alveolen, frohlocket, ihr Erythrocyten!

Letztes Jahr war ich als Single allein im Allgäu unterwegs.
Wandern, Wellness, radeln, alles sehr erholsam, aber alles auch ein bisschen...na, allein eben. Der Karl hatte in Füssen versucht, mit mir anzubändeln. Ohne Erfolg.

In diesem Sommer hatte ich eine Begleitung dabei.
Sogar eine männliche.
Sogar eine, die genauso gerne wandert und frische Luft atmet wie ich.


Niemals würde ich völlig unvorbereitet einen Aktivurlaub antreten. Eine Woche mit fünf möglichen Wandertagen musste gut durchdacht sein. Mein Bruder schenkte mir zum Geburtstag den Rother Wanderführer Leichte Wanderungen - Genusstouren im Allgäu, Kleinwalsertal und Tannheimer Tal. Darin blätterte ich und schaute, welche Routen abwechslungsreich und mit meiner Kondition wanderbar erschienen. Bezüglich der Kondition meines mitgereisten Naturburschen und ehemaligen Pfadfinders machte ich mir keine Sorgen.

Sorgen machte ich mir nur ein wenig um das Wetter. Die ersten beiden Tage regnete es.
Aber da wir ohnehin nass wurden, gingen wir auch gleich die Breitachklamm hoch, wo der Fluss toste und die Wasserfälle niederprasselten.






Zwei Tage später scheint die Sonne.

"Entschuldigung, geht es hier zum Engeratsgundsee?" fragt mein Freund eine agile Seniorin, deren faltige Bräune auf viele Outdoor-Aktivitäten hindeutet und die mit ihren Wanderstöcken an uns vorbeiziehen will.
Ich habe meine Stöcke heute Morgen vergessen. Ob die mir auf diesem Wanderweg geholfen hätten, ist fraglich. Es geht seit Stunden über Geröll und Schneefelder, was ich anfangs gern als sportliche Herausforderung annahm.


"Das geht in die Richtung", sagt die Wanderin im Vorbeigehen, "dauert ungefähr zwei Stunden. Wenn´s ihr noch die Bahn ins Tal erwischen wollt, müsst´s ihr aber langsam zurück."

Waaaaas? Ich möchte weinen.

Wegen der Seen sind wir eigentlich hier oben, ein Panoramaweg wurde vom Wanderbuch und dem Internet versprochen, traumhafte Ausblicke (stimmt!) auf vierhundert Gipfel (wir haben es nicht nachgezählt, aber es waren sehr viele), leicht zu meistern (naja...). Ich bin mir gar nicht sicher, ob dieser Weg Nr. 6 ab Nebelhornstation Höfatsblick überhaupt der Weg ist, den ich ausgewählt hatte. Wenn er es ist, muss ich meine Interpretation von "auch für ungeübte Wanderer mit einer gewissen Trittsicherheit und Höhentauglichkeit" überdenken.

Wenn er es nicht ist, habe ich mich total vertan. In beiden Fällen kann ich meinen Wander- und Lebensgefährten nicht verantwortlich machen. Blöd.
Nachdem wir uns verlaufen haben und der Nebelhorngipfel fast schon zum Greifen nah ist, kehren wir um und orientieren uns neu. Hochplateau Koblat steht auf einem Schild. Da konnte der Koblatsee doch nicht weit sein. Weg Nr. 6 setzt alpine Erfahrung und Ausrüstung voraus, dies steht widerum auf einem Schild einer Liftstation.




Unsere bisherigen Wanderungen durch die Elfringhäuser Schweiz, den Grafenberger Wald und das Münsterland waren offenbar nicht alpin genug. Wanderschuhe und Rucksack sind wohl keine ausreichende alpine Ausrüstung. Es fehlen die Stöcke und Handschuhe, die unsere Hände beim Hochziehen an oder Abstützen auf den Felsen schützen könnten.
Und mir fehlte definitiv ein wenig Kondition. Die kann man nirgendwo kaufen.

Meine Panik, die letzte Bahn ins Tal nicht zu erreichen, lässt mich kurz erstarren, dann treibt sie mich zur Eile an. Wir gehen, nein, steigen denselben Weg zurück. Der traumhafte Ausblick auf die vierhundert Gipfel ist mir inzwischen egal. Der Gipfel ist diese Wanderung! Schweiß läuft aus allen meinen Poren. Das Herz schlägt schneller. Die Sonne verschwindet hinter den Wolken. Ich fluche ziemlich laut, was meinen Weggefährten veranlasst, mich zwischendurch zu beschwichtigen. "Mach dir keinen Kopf, da sind noch einige Leute hinter uns, die wollen doch sicher auch zur Bahn."

Der Vater mit seiner Tochter zum Beispiel.
Das junge Pärchen.
Die circa achtzigjährige Dame, die ein bisschen schwer atmet, um dann in einen munteren gemsenartigen Aufstieg zu wechseln.
Alle überholen uns behände.

Ich schnaufe mit hochrotem Kopf. Und schäme mich, dass ich schnaufe. Was ist denn los mit mir? Der Sherpa an meiner Seite lächelt immer noch und ist die Ruhe selbst, während ich mich schon von einem Heli abtransportiert zu drohen glaube. Wie immer, wenn meine Kräfte nachlassen, werde ich pampig. "Jaaaa, alle noch hinter uns. Vor allem die Omma, die gerade noch hinter uns lief und jetzt der rote Punkt da oben auf dem Kamm ist. Warum ist die so fit? Ist wahrscheinlich früher diesen Weg zur Schule gegangen. Barfuß."
Ich grummele den Rest des Weges vor mich hin, bis irgendwann die Station Höfatsblick in der Ferne zu sehen ist. Dort geht dann auch der Weg mit der Gondel ins Tal.
Nachdem wir eine Stunde in der Warteschlange anstehen.

Im Tal gibt es Weißbier, Schupfnudeln und Kraut zur Belohnung.
Neue Knie gibt es leider nicht im Angebot in der Alten Sennküche. 

Meine Laune bessert sich dennoch schnell. Dieser Weg da oben unter dem Nebelhorn war kein leichter und hat mich an meine Grenzen gebracht, war jedoch - im Nachhinein betrachtet - eine meiner schönsten Urlaubserlebnisse überhaupt. 

Ich glaub´, ´ne Gemse werd´ ich nie.

Aber ich gebe ein prima Murmeltier ab.






Fotos © Britta Meyer