19. Mai 2019

Runterscrollen


Ich habe es getan.
Ich habe es wieder getan.
Ein Online - Sommerrätsel gelöst, bei dem ich einen Wellness-Urlaub gewinnen kann und, wie beim Memory, Pärchen aus Palmen, Eis am Stiel, Sonnen, finden muss.
Ein gutes Training für mein Hirn.

Nachdem ich die Aufgabe gelöst habe, muss ich alle Daten angeben, auch mein Geburtsdatum. Leider darf ich das nicht selber eintippen. Nein, leider muss ich auf einen Pfeil klicken und dann scrollen...runterscrollen...weiter runterscrollen...weiter...noch weiter runterscrollen, bis endlich das Jahr 1969 erscheint.

Dieses Runterscrollen bedeutet doch nichts Anderes als dass es im wahrsten Sinne von nun an bergab geht. Oder?

Was mir merkwürdig erscheint: Kurz nach meinem 50. Geburtstag waren die Frauenzeitschriften plötzlich voll von Berichten über Frauen, die es nochmal wissen wollen, die alles hinwerfen, die sich einen neuen Job und/oder einen jüngeren Lover suchen. Frauen über 50 wissen, was sie wollen. Frauen über 50 sind totaaaaal gelassen. Frauen über 50 haben den besseren Sex.
Und in der GALA behauptet Maria Furtwängler ganz frech "50 ist das neue 30".

GALA-Ausgabe vom 04.05.2019

Das ist doch nur die halbe Wahrheit!
Wer jemals versehentlich mit seinem Smartphone ein Selfie in den frühen Morgenstunden ausgelöst hat, könnte den Verdacht hegen, dass "50 das neue 70" ist.

Selfie, unabsichtliches

Da hat das eigene Gesicht mehr Faltenwurf als ein Geburtstagsluftballon nach zwei Monaten.




Älterwerden ist kein Ponyschlecken.
Da ist diese Sache mit der Brille. Oder besser: Den Brillen.
Ich kann Buchstaben, die kleiner sind als die auf Wahlplakaten, ohne Sehhilfe  nämlich nicht mehr lesen. Das ist für einen Menschen, der sich bis vor drei Jahren selbstbewusst "Adlerauge" nannte, vermutlich schlimmer als für diejenigen, die schon auf Kindergartenfotos ein Auge zugeklebt hatten.
An mehreren Stellen muss ich Brillen deponieren, vor allem im Büro.
Sonst ist schnell mal ein Urlaub nach Lagos (Nigeria) statt nach Lagos (Portugal) gebucht.

Hören kann ich noch sehr gut.
Was nicht immer ein Segen ist.
In meinem Lieblingseiscafé sitzen selbsternannte Philosophen und Politiker.
Gerade hat einer darüber schwadroniert, wie touristisch Rio de Janeiro geworden ist.
Düsseldorf auch. Ist sehr touristisch geworden, es werden viel zu viele Hotels gebaut.
Wohingegen es in Hessen sehr schöne ursprüngliche Orte gibt. Dieser Tourismus-Kritiker hätte das seinem Kumpel ja auch in normaler Dezibel-Anzahl mitteilen können, aber EIN Zuhörer ist ihm wohl zu wenig. Genauso wie dem Mann am Tisch gegenüber, der sich über Europa und alles, was damit zu tun hat, verbal austobt.

Wenn ich hingegen etwas Wichtiges hören möchte, gibt es fiese Störungen.
Neulich in einem anderen Café saß ein wirklich attraktives Paar. Da musste ich mehrmals hinschauen und überlegen, ob ich die beiden nicht aus Funk und Fernsehen kenne. So ein Pärchen, das in eine Ralph Lauren-Werbung schafft. Oder auf die Homepage eines ROBINSON Clubs für Best Ager.

Auf jeden Fall sagt sie zu ihm: "Du brauchst mir nichts vormachen, du bist nicht ehrlich."
Und er so: "Wer hat dir das denn erzählt?"
Sie: "Das ist doch egal, das merke ich selber. Ich.. Chchchrrrrchrchrrrchchcchchchrrrr und dann hast du mir weisgemacht, dass..Chchchrrrrchrchrrrchchcchchchrrrr."
Er dann: "Jetzt komm, das stimmt doch nicht, wir hatten darüber gerede...Chchchrrrrchrchrrrchchcchchchrrrr."

Diese Kaffeevollautomaten sind doch eine echte Seuche.

Also, sehen geht inzwischen schlecht.
Hören (meistens) gut.
Wie sieht es mit der vielbeschriebenen Willensstärke von Frauen Ü50 aus?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich immer weiß, was ich will.
Aber ich weiß, was ich NICHT will. Das ist doch schon mal was.


Ich will mich zum Beispiel nicht mehr aufregen.
Das klappt leider nur selten.

Laut vor mich herschimpfen klappt hingegen wunderbar.
Es dauert nicht mehr lange und ich mutiere zur mit dem Krückstock wedelnden Omma. Dieser Entwicklung sehe ich mit großer Angst entgegen. So wollte ich niemals werden.
Ich wollte immer ein sanftmütiges Wesen mit richtiger Bauchatmung sein.

Auf dem Weg zur Sanftmut werden mir aber auch dauernd Hürden in den Weg gestellt.

Im Fitness-Studio zum Beispiel.
Da gehe ich hin, damit die Muskeln und Knochen es länger tun als ohne Sport und ich mir nicht jedes Jahr Klamotten in einer größeren Konfektionsgröße kaufen muss.

Ich bin so ziemlich die Älteste in der Muckibude mit coolem Ambiente und lauter Bum-Bum-Musik. Wäre ich gelassen, wie die BARBARA behauptet hat, würde ich leise und verständnisvoll in mich hineinschmunzeln, wenn Mädels, die meine Töchter sein könnten, die Fitnessgeräte gefühlte STUNDEN belegen und auf ihrem Smartphone herumtippen. Mein "Brauchst du noch länger?" ist die höfliche Form von "Mach hinne, sonst setzt es was", und auf diese sanftmütige Formulierung bin ich sehr stolz.
Dass ich in der Umkleide benutzte Taschentücher und Abschmink-Wattepads mit spitzen Fingern und leise Flüche murmelnd ebenso in den ein Meter entfernt stehenden Mülleimer entsorge wie Einwegrasierer und leere Shampoofläschchen aus der Dusche, mag ja noch angehen.

Aber finden Sie es normal, dass junge erwachsene Frauen, die mit einem mehrschichtigen Contouring-Make up, künstlichen Wimpern und umfassend parfümiert zum Training gehen, dem Irrglauben unterliegen, eine Toilettenbürste diene lediglich der Dekoration des "stillen Örtchens"?
Omma Meyer flucht, nutzt das Utensil gemäß seiner ursprünglich zugedachten Bedeutung und entfernt Spuren, die WC-Vorgängerinnen hinterlassen haben. "Warum?", fragt sich die geneigte Leserschaft. Nun, weil ich nicht möchte, dass MICH jemand dieser Sauerei bezichtigt.
Ist das nicht schön?
Schön blöd.

Selfie, absichtliches

Auch ärgerlich ist die rücksichtslose Nutzung des öffentlichen Raumes, nach dem Motto "Mir doch egal, ob du mit deinen drei Einkaufstüten in der Bahn stehen musst, weil ich meinen wertvollen Rucksack auf dem Nachbarsitz platziert habe". Hach ja. Generationenübergreifender Egoismus, der sich wortwörtlich breit macht. Eines meiner Lieblingsthemen.

Grmpft.

Es gibt tatsächlich Tage, da lächele ich alles weg, was mich ärgert.
So fünfzehn bis zweiundzwanzig im Jahr.
Oder ich teste mich und bin besonders freundlich zu extrem unfreundlichen Menschen.

Kaufe mir einen roten Trenchcoat, obwohl der eigentlich zu auffällig ist.
Schreibe, obwohl ich eine Schreibblockade habe.

Vielleicht ist "einfach machen" doch charakteristisch für Frauen eines gewissen Alters.

Vielleicht ist es nicht schlimm, wenn mir ab und zu ein Zacken aus der Krone bricht.

Vielleicht ist 50 das neue 50.

Und vielleicht ist das gut so.