23. Oktober 2020

Hotzenplotz!

Erinnerungen an Kindheitserlebnisse, sind sie wirkliche Erinnerungen oder einfach ein Gemisch aus mehrfachen Weißt du noch-Erzählungen bei Familienfeiern und unscharfen, verblichenen Fotos? 

Ich bin mir da nicht sicher.

Mein Vater war ein wunderbarer Erzähler, nicht nur Geschichten aus seiner eigenen Kindheit und Jugend, nein, auch bahnbrechende Sätze, die wir Kinder von uns gegeben haben (sollen), wurden immer wieder zum Besten gegeben. 

Mein vorlautes Kindermundwerk hatte wohl den Zweck, Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich glaube, ich war ziemlich anstrengend.

Umso mehr gilt es die Geduld meiner Tante Hedwig zu preisen, die in den 70er Jahren keinen Single-Urlaub im Club Mediteranée verbrachte, sondern mit ihrem frechen Patenkind am Hals nach Ibiza flog. Dort vergraulte ich jeden sich unserer Sonnenliege nähernden Papagallo mit lautem Gequengel. Ich wollte meine Tante "Heta" ganz für mich haben und mochte außerdem keine schwarzen Schnauzbärte. Der Urlaub in San Antonio ist deshalb weder glamou- noch amourös für sie verlaufen.  

"Ich konnte mir ja kein Schild umhängen, dass ich nur Brittas Tante bin. Die dachten alle, sie ist mein Kind." 

Tante Hedwigs Geduldsfaden reichte für zwei Reisen mit mir.

Sogar für eine mit dem Zug bis unten ins Allgäu.

Anfang der 70er Jahre war an ICEs noch nicht zu denken, wir saßen auf Plüschsitzen im Abteil eines D-Zuges, der von Dortmund nach Oberstdorf acht Stunden benötigte. 

Wie beschäftigte man in den 70er Jahren ein aufgewecktes Kind mit großem Kommunikationsbedarf? Irgendwann waren alle Pixi-Bücher vorgelesen, Ich-sehe-was-was-du-nicht-siehst fertig gespielt, die vorbeiziehende Landschaft durch das Fenster beguckt und alle Waruuuum?-Fragen beantwortet. 

Und da waren wir erst in Frankfurt am Main. 

Zum Glück hatte jemand - vermutlich mein Vater - die Idee gehabt, einen Kassettenrecorder mit in das Reisegepäck zu tun. Jenes Wunderwerk der Technik mit simplem User Manual, bestehend aus An - Aus - Vor - Zurück - Laut - Leise - Tasten. 

Foto: Wikipedia 



Eine Hörspiel-Kassette hatten wir auch dabei.

Sie lesen richtig: EINE.

Der Räuber Hotzenplotz.

Ich liebte Hörspielkassetten, vor allem diese, die Story von Kasperl, Seppl, der Großmutter, der Fee Amaryllis, dem tumben Wachtmeister Dipfelmoser und der Pfefferpistole war mein Favorit. Gesungen wurde auch auf der Kassette. Das Lied "Sieben Messer und ein Gewehr", das ein Kinderchor im Dreivierteltakt von sich gab, gefiel mir am allerallerbesten.

Sieben Messer und ein Gewehr, 

hat der Räuber Hotzenplotz! Hotzenplotz! 

Wo er hinkommt gibt es Malheur, 

der Pi-Pa-Polizei zum Tri-Tra-Trotz! Hotzenplotz!

Gerüchten zufolge habe ich das Lied lauthals mitgesungen, sehr zum Vergnügen meiner Tante und aller Mitreisenden, die mit uns im Abteil saßen. Nachdem wir diese eine Kassette mehrfach hintereinander gehört hatten, waren die Fahrgäste genauso textsicher wie ich, hatten einander untergehakt, mitgeschunkelt und mitgeträllert. Dabei lächelten die Reisenden mir, dem kleinen Blondschopf, wohlwollend zu und munterten mich auf, die Kassette erneut umzudrehen und wieder von vorne anzuhören.

Foto: www.hoerspielland.de

Das glauben Sie jetzt nicht wirklich, oder?

Ich denke, die Damen und Herren hätten gern das Abteil gewechselt, ihr Buch woanders gelesen oder ihre Unterhaltung ohne das kindgerechte Entertainment fortgeführt. Doch war ich entweder zu niedlich oder zu dominant, eventuell beides: Der Kassettenrecorder lief und lief und lief, bis kurz vor Ulm die Batterien langsam aufgaben. 

Siiiehiiiben Messaaer uuhund eiiin Gewehaer

Die Kassette leierte. Ob der Chor der Mitinsassen im D-Zugabteil ebenfalls anfing zu leiern, ist mir nicht bekannt. Vermutlich atmeten die Erwachsenen alle ganz tief durch und hofften auf eine entspannte Weiterfahrt.

Klein-Britta war jedoch sehr unzufrieden mit der Gesamtsituation.

Ich fing an zu quengeln wie auf Ibiza.

Nur eben nicht wegen der Männer, sondern der Batterien wegen.

Meine Tante, auf deren Geduld ich nochmals aufmerksam machen möchte, erklärte mir, dass die Batterien leer seien und deswegen das Abspielen des Recorders nicht möglich sei. 

"Dann kauf neue Batterien!"

Pragmatisch war ich ja. 

Zum Leidwesen meiner Patentante hielt unsere Bahn in Ulm fast dreißig Minuten. Ich denke, sie wog ab, ob sie sich den Unmut der Zugreisenden weiter zuziehen oder mein Genöle bis Oberstdorf aushalten wollte.

Fünfzehn Minuten später konnten wir alle weiterschunkeln.

:-)))

 


P.S. Bitte hören Sie sich das von Egon L. Frauenberger komponierte Lied unbedingt auf Youtube an!

Jener schrieb sechs Hotzenplotz-Hörspiele. Der Räuber Hotzenplotz war das erste Hörspiel, das eine Goldene Schallplatte bekam. Außerdem war er u.a. Autor der Hörspiele Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst und Urmel aus dem Eis.

Er war angeblich auch für den Jodel-Teil des Kufsteinliedes verantwortlich, verlor aber in 2009, kurz vor seinem Tod, einen Rechtsstreit.