9. Mai 2024

Mechthild macht die Plätze klar

Ich bin ein rücksichtsvoller Mensch. 

Deshalb mache ich irre Dinge, zum Beispiel lasse ich Leute aus Zügen aussteigen, bevor ich einsteige.

Der Intercity Richtung Gera hält am Gleis 17. Neben mir am Gleis steht eine Gruppe Radfahrer, und zwar eine von der älteren agilen Sorte. Frauen und Männer in Funktionskleidung, deren bereits Anfang Mai stark gebräunte Haut von zahlreichen Radtouren und/oder Gartenarbeit zeugt. 

Der Knopf neben der Waggontür springt von rot auf grün. Ein Radfahrer ruft mir zu: „Jetzt!" und nickt heftig, im Sinne von „Nun mach schon." Ich drücke den grünen Button, die Tür öffnet sich. Es erscheint eine lächelnde Zugführerin. Der delegierende Senior hebt sein Rad an und versucht, die Schaffnerin zurückzudrängen.

„Einen kleinen Moment, bitte“, sagt sie.

„Und ich würde auch noch gern einsteigen“, sage ich. Wobei ich durchaus Verständnis dafür habe, dass es aufregend ist, in einem kleinen Zeitfenster acht Trekkingräder in einem Fahrradabteil unterzubringen.

Ich gehe durch das Fahrradabteil zu einem freien Sitzplatz am Fenster. Aus dem Radabteil hinter mir höre ich Kommandos von dem Senior, der mich vorhin hieß, die Zugtür zu öffnen. Kurz frage ich mich, ob die Bezeichnung Rädelsführer auf einer ähnlichen Gruppentour entstanden ist.

In meinem Großraumwagen übernimmt unterdessen ein weibliches Mitglied der Radtruppe das Regiment. Sie stellt fest, dass sich die reservierten Sitzplätze für die Senioren in einem Wagen am anderen Ende des Zuges befinden, ganz weit weg von den Rädern. Das geht ja nicht!

„Dann müssen wir uns hier Plätze suchen.“

Sie rennt im Gang des ICs auf und ab wie ein nervöses Kaninchen und kontrolliert die Platzanzeigen oberhalb der Sitze.

Ich nenne sie Mechthild. Sie sieht aus wie eine Mechthild, die ich kenne. Die Frau Mitte 60 ruft sehr laut: „Hier Anne, hier sind noch zwei Plätze, dahinten auch, ja, da am Fenster. Gebt mir irgendwas, mit dem ich die Sitze belegen kann.

Ich kann mir Mechthild prima am Pool eines Urlaubshotels vorstellen und murmele: „Handtücher wären gut.“

„Los, schnell! Ich brauche was, womit ich die Plätze reservieren kann.“ Sie hechtet zum Fahrradabteil, in dem die Männer die Räder befestigen. „Klaus, Klaus, gebt mir mal eure Helme und die Jacken.“ Mechthild rennt hin und her, dass ihre Brille wackelt. Ihr graues Haar klebt ihr im Nacken. Ein Mann, ich nehme an, es handelt sich um Klaus, trottet ergeben hinter Mechthild her und überreicht ihr diverse Reservierungsutensilien.

Er hat die Ruhe weg.

Mechthild ist immer noch ganz aufgeregt.

Der IC fährt los. Die restlichen Teilnehmer der Radgruppe betreten ebenfalls den Großraumwagen.

„Ich habe hier, hier und da drüben reserviert“, vermeldet die Seniorin nicht ohne Stolz. Es klingt ein bisschen so, als habe sie eine Schlacht gewonnen. Sie nimmt die beschlagene Brille von ihrer Nase und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Ich schüttele mit dem Kopf, verdrehe kurz die Augen und schaue aus dem Fenster auf vorbeiziehende Häuserreihen.

Dann fällt mir auf: Das hätte ich sein können!

Diese hektische Fürsorge, die hohe aufregte Stimmlage, die Entspannung, die erst eintritt, wenn alle sitzen und zufrieden sind.

Die Erkenntnis trifft mich plötzlich wie ein Blitzschlag:

Ich bin eine Mechthild.

Besorgt, aber übergriffig.

Nett, aber nervig.

Ich bin eine Mechthild.

Erschreckend.

Den Rest meiner Bahnfahrt überlege ich, wie ich zukünftig damit umgehen soll.

Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.