Als mein Vater im Alter von 14 Jahren die Schule verließ, fragte man ihn, was
er denn werden wolle, Autoschlosser oder Koch. Meinem Vater war das ziemlich
wurscht, er hatte keine Ahnung, wie eine Berufswahl sein Leben beeinflussen
konnte. Also wurde mein Vater Hermann Koch. Die Lehrjahre waren keine
Herrenjahre, der Ton in der Großküche in Witten/Ruhr war ruppig, die Scherze auf
Kosten des Lehrlings zuweilen hart, die Berge Kartoffeln, die es täglich zu
schälen galt, riesig. Vom Heimweh nach seinem Heimatort Willingen gar nicht zu
reden.
Immerhin, Hermann kam herum. Lange arbeitete er im Brauhaus Stade in
Dortmund. Es waren die 50er Jahre, es wurde gefressen nach der langen Zeit der
Entbehrung. "Das war die Fresszeit", sagt mein Vater und man weiß, was er meint.
Hähnchen und Haxen und Braten und Knödel, davon reichlich und mit Soße.
Und weil mein Vater gerne reiste und etwas von der Welt sehen wollte, suchte
er sich eine Arbeitsstelle bei der Deutschen Bahn und wurde Koch in Zügen. Der
Donau-Kurier, der D222 fuhr von Dortmund über Köln, Frankfurt, Passau nach Wien
und zurück. Der Schwabenpfeil fuhr von Dortmund nach Stuttgart und wieder
zurück. Die Zugrestaurants waren viel eleganter als die Bordbistros heute,
Gardinen, Lämpchen, es wurde richtig eingedeckt. Eine Mikrowelle gab es nicht,
kein Pling und das Essen war fertig. Gekocht wurde auf engstem Raum, Fleisch
wurde richtig gebraten, der Fond als Soßenbasis genutzt, eine Hühnersuppe war
vorher tatsächlich mit einem Huhn in Berührung gekommen.
Regionale Küche war
beliebt. Ab Passau gab es Kaiserschmarrn und Tafelspitz, abrechnet wurde zum
Schluss und zwar in Schillingen. Die Kellner kannten die Gäste, die regelmäßig
mit dem Schnellzug fuhren und im Restaurant aßen, mit Namen.
Am besten verstanden habe ich mich mit dem Hoffmann. Horst Hoffmann hieß
der. Aber der Schaffner, der ist uns auf die Nerven gegangen. Der kam dauernd in
die Küche, wenn ich gerade das Essen fertig hatte und der Hoffmann servieren
wollte. Och, was habt ihr denn da Leckeres, Ochsenschwanzsuppe, zeig mal her die
Spezialitäten. Und dann hat der einfach die Suppe gegessen und der Gast hatte es
doch eilig, der musste doch bald wieder aussteigen. Und wir mussten abends
erklären, warum die Einnahmen nicht stimmten. Der Schaffner hat uns furchtbar
geärgert, dem wollten wir unbedingt eins auswischen.
Im Schnellzug gab es nicht nur ein schönes Restaurant und richtiges Essen
und Kellner, die den Namen der Gäste kannten. Am Ende des Wagens befand sich
auch ein sogenanntes Schreibabteil. Dort konnten die Geschäftsreisenden
telefonieren oder bei der Zug- sekretärin einen Brief oder ein Telegramm in
Auftrag geben. Die Zugsekretärin, eine Christa oder eine Karin oder Ingeborg,
war sehr nett und grüßte meinen Vater, den Koch, und den Hoffmann, den Kellner,
immer freundlich winkend, wenn sie den Zug betrat.
Eines Tages nervte der Schaffner schon wieder.
Och, was habt ihr da denn Schönes auf dem Teller, Kaiserschmarrn? Lasst
mal probieren, hm, köstlich.
Hör mal, wenn du uns schon die Haare vom Kopf frisst, kannst du uns aber
auch mal einen Gefallen tun. Bring bitte diesen Brief dem reizenden Fräulein aus
dem Schreibabteil.
Nee, Jungs, dazu habe ich wirklich keine Zeit.
Der Schaffner blickte auf den Umschlag des Briefes, auf den lauter Herzchen
gemalt waren und grinste. Er wolle mal nicht so sein, die junge Dame sei ja
wirklich ein flotter Käfer. Sprachs und verschwand mit der Liebesbotschaft ans
Ende des Zuges. Kurze Zeit später kam der Zugbegleiter wutschnaubend und mit rotem Kopf
zurück. Armleuchter seien sie, alle beide. Eine Frechheit sei das gewesen. Den
zerknüllten Brief warf er ihnen vor die Füße und rauschte ab.
Mein Vater und der Hoffmann feixten frohgelaunt, hoben das Papier vom Boden
auf und strichen es glatt. Darauf stand geschrieben:
Ich liebe Sie. Der Schaffner
Ob der Schaffner jemals wieder Speisen aus Töpfen und vom Teller gemopst hat,
daran kann mein Vater sich nicht mehr erinnern. Wohl aber daran, dass das
Fräulein aus dem Schreibabteil beim Verlassen des Zuges nicht nur freundlich
gewunken, sondern auch den beiden jungen Männern verschwörerisch zugezwinkert
hat.