30. August 2025

Damals, als ich dachte, ich werde berühmt


Google-Erinnerungen können ziemlich arschig sein. 

Da tauchen Bilder auf, die mich sehr wehmütig stimmen. Bilder von geliebten Verstorbenen, von Urlauben mit Ex-Partnern, die schön waren (also, die Urlaube) und meistens Bilder von einem viel jüngeren Ich.

Heute: Google schickt mir eine Erinnerung aus dem Jahr 2011 auf mein Smartphone.

Auf einer Fotocollage sieht man mich mit Oliver Wnuk vor einer Holztür in Prenzlauer Berg. Jetzt könnte ich sagen: "Ach guck mal, der Oliver und ich, was waren wir da noch jung" und mich dann wieder meinem Tagwerk zuwenden. Aber mein Kopf macht es sich in einer Sofalandschaft gemütlich und schaut sich eine Diashow der Erinnerungen an.

Zwei Übernachtungen mit Frühstück im sehr hübschen Achselhaus in Berlin und ein Treffen mit dem Schauspieler, der gerade seinen ersten Roman veröffentlicht hat, sind der Gewinn eines Schreibwettbewerbs der Fischer Verlage und der Frauenzeitschrift MAXI. Mein erster ernsthafter Schreibwettbewerb und gleich der erste Preis. Zur Jury zählen unter anderem Sibylle Berg und Jörg Thadeusz. Letzterer schreibt mich über XING an. Er befände sich gerade auf einer kleinen kanadischen Insel, die dem Texter von Roland Kaisers Santa Maria gehöre und wolle mir sagen, dass er mir gern 15 statt der maximalen 10 Punkte pro Jurymitglied gegeben hätte. Jetzt sagen Sie mal ehrlich: Wie soll ich da nicht durchdrehen?

Ich fühle mich das erste Mal als Autorin erkannt und gewürdigt. Meine Texte sind bisher in einem bürgerjournalistischen Onlineforum der Rheinischen Post veröffentlicht und ab und an in der Zeitung abgedruckt worden. Aber das hier, das ist etwas ganz Anderes.

Vor dem Treffen mit Oliver Wnuk befallen mich diverse Gedanken.

Hoffentlich kehre ich rechtzeitig (und braun!) von einem Wanderurlaub mit meiner Cousine aus Mallorca zurück. Ich habe nur einen Tag in Düsseldorf, dann geht es wieder nach Berlin. Ach, wir Autorinnen, wir sind ja so kosmopolit. 

Eine weitere Sorge ist: Wie sehe ich auf dem Foto neben Oliver Wnuk aus? Das erscheint in der MAXI, da will ich auch ein bisschen aussehen wie ein aufgehender Stern am Literaturhimmel. Wenn ich mich schminke, sehe ich aus wie ungeschminkt. Da müssen Profis ran. Ich mache einen Termin in der Kosmetikabteilung von KARSTADT am Alexanderplatz. Eine fröhlich-korpulente Berlinerin macht sich ans Werk, und als ich ihr sage, dass mein Foto in ein Frauenzeitschrift kommt, gibt sie noch mehr Gas. "Na, watt sagense? Dit is doch schick." Ja, dit is schick. Wenn man am Abend noch einen Auftritt als mittelmäßig erfolgreiche Dragqueen in Schöneberg hat. Mit professionellem Make Up sehe ich immer aus wie ein geschminkter Mann. Das war schon in den 90ern so, als ich bei "Jeopardy" im TV auftrat und den zweiten Platz belegte. 

Schlimm. Ganz schlimm.

Im Hotel erwartet mich mein damaliger Lebensgefährte, der mitreisen durfte. Meine Erwartung, dass wenigstens er angesichts meiner Verschönerung bei Karstadt vor Begeisterung ausflippt, wird nicht erfüllt. Ich gehe in das Bad des balinesisch anmutenden Zimmers und schminke mir 25 Euro vom 50 Euro teuren Make Up aus dem Gesicht.

Meine Hauptsorge ist, dass ich in Gegenwart von Herrn Wnuk nichts zu erzählen weiß. Was ist, wenn er schlecht drauf ist? Er ist gerade Vater geworden (danke, GALA!) und schläft vermutlich so gut wie gar nicht. Was ist, wenn er mich dämlich findet? Was ist, wenn ich angesichts seiner Prominenz verstumme? 

Mein Freund und ich warten am Kollwitzplatz auf den Schaupieler, und dann steht er plötzlich im Trenchcoat da. Wir gehen in ein mediterranes Restaurant, er bestellt Merguez mit Pommes frites und ich irgendeinen Salat. Zum Glück ist Oliver Wnuk sehr freundlich, zum Glück habe ich sein Buch im Urlaub gelesen. Er fragt mich nach meinem Text. Den habe ich nicht dabei, war ich doch so naiv zu glauben, dass der Fischer Verlag ihm diesen schon per Mail geschickt hat. Peinlich. Wir unterhalten uns recht angeregt, zum Beispiel darüber, dass es uns beiden leichter fällt, in angespannten Lebenssituationen etwas Unterhaltsames zu schreiben, als wenn es uns rundherum gut geht. Ich verspreche ihm, meinen Gewinnertext an seine Agentur zu mailen.

Da kein professioneller Fotograf beim Treffen dabei ist, muss mein Lebensgefährte das gemeinsame Foto machen. Da wird Herr Wnuk aber kritisch. "Nee, das geht nicht. Mach mal noch zwei, drei andere." Wir stehen vor einer Holztür, die gefällt uns beiden als Hintergrund. 


Später fragt der Verlag, ob es nicht noch andere Motive gäbe. Grmpft. Schickt mir doch das nächste Mal einen Profi zum Knipsen vorbei.

Nach dem zweistündigen Lunch verabschieden wir uns. Ich bin erleichtert und beseelt zugleich.

Vor allem danke ich meinem Vater, der mir vorgelebt hat, dass Niederlagen mit Humor viel besser zu ertragen sind. Und ich danke meiner Mutter, die mir gerne Bücher schenkte, die ich in meinem Kinderzimmer, auf dem Bett mit der Herzchenbettwäsche liegend, verschlang und die mich letztendlich dazu brachten, selber Geschichten zu erfinden.

Es kann nicht schaden, jetzt schon einmal ein paar Sätze für die Rede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises zu formulieren. Ich befinde mich auf der Heimfahrt mit dem ICE von Berlin nach Düsseldorf. 

Und das ist das letzte Bild der Diashow in meinem Kopf. Und das alles ist nur von einer Google-Erinnerung mit einer Fotocollage von 2011 losgetreten worden.

Damals dachte ich, ich werde berühmt.

Im Hier und Jetzt ist alles sehr anders.

Ich habe die Rede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises nicht beendet. Es gibt keinen Preis. Es gibt noch nicht einmal ein Buch. Es gab ein digitales mit einem Best of meiner Kurzgeschichten, das der Verlag inzwischen aus dem Programm genommen hat, weil es nicht mehr in dessen Portfolio passt.

Wenn ich Geschichten geschrieben habe, hatten diese immer sehr viel mit meinem echten Leben zu tun. Nun fallen mich nur noch ab und zu Ideen an. Ich bin jedoch nicht in der Lage, diese zu einem Text zu formen, den ich als lesenswert erachte. Das macht mich wahnsinnig traurig und manchmal auch richtig wütend. Ich stelle mir vor, wie ich eines Tages im Hospiz liege und mich durch den Morphinnebel hindurch ärgere, dass ich nichts hinterlasse.

Weder Kinder, noch Bücher.

Manchmal lese ich Bücher und denke "Das hätte ich auch gekonnt".

Aber ich schreibe sie nicht.

Ich bin einfach vom Leben, von Sorgen und Ängsten blockiert.

Meine Therapeutin sagt: "Sie haben das Talent, es ist nur gerade kein Raum fürs Schreiben da. Das kommt schon wieder."

Ich frage mich, wann.

Bis dahin und um in Übung zu bleiben, poste und kommentiere ich ohne viel Verstand auf Facebook und Instagram. Kleine Grashälmchen der Sinnlosigkeit, an denen ich mich festhalte, verbunden mit dem Wunsch, mich wieder einmal so zu fühlen wie in 2011 als die Mitarbeiterin des Fischer Verlages anrief und mir zum ersten Preis des Schreibwettbewerbs gratulierte.

Google-Erinnerungen können ziemlich arschig sein.

In diesem Fall haben sie mir in meinen faulen Schreibhintern getreten.

Immerhin.



Hier der Link zum Text GOODBYE, CARMEN



20. Juli 2024

Junggesellenabschied

 Der hässliche Mann ist der Bräutigam steht auf den T-Shirts der jugendlichen Herrengruppe. 

Die fröhlichen Männer stehen auf dem Bürgersteig vor einem Büdchen auf der Friedrichstraße. Nebenan befindet sich die Bäckerei Oehme, wo ich mein Brot kaufen will. Ich sehe aus meinem linken Augenwinkel, wie der Bräutigam ein junges Pärchen fragt, ob es ihm Schnäpse abkauft. Oder vielleicht Kondome. Hihihi. Seit wie vielen Jahrhunderten werden Bauchläden von zukünftig Verheirateten mit immer den gleichen Artikeln bestückt?

Ich kaufe eine Schweizer Kruste, geschnitten. Als ich die Bäckerei verlasse, stellt sich mir der Bräutigam freundlich in den Weg. "Hallo, die Dame, möchten Sie mir vielleicht einen Schnaps abkaufen?"

21, 22, 23.

"Wieso werden mir keine Kondome angeboten?"

Diese Frage empfinde ich als berechtigt.

Die Jungs allerdings, die altersmäßig meine Söhne sein könnten, sehen eine Frau mit angegrautem Haar, die den Zenit der Jugend lange überschritten hat. Oder kurz: Da wird der Zug wohl abgefahren sein.

Ich mache eine leicht beleidigte Schnute.

"Äh. Ja, die wollten wir Ihnen direkt als Nächstes anbieten."

"Ja, ja."

"Nee, wirklich."

"Komm´, zeig mal die Schnäpse."

Ich kaufe einen roten Klopfer für unverschämte zwei Euro und wünsche der Junggesellenabschiedtruppe noch einen schönen Tag.

Wieder im Büro (ja, ich muss samstags arbeiten und bitte um Bewunderung oder wahlweise Mitleid) sehe ich, dass der Aufkleber auf dem Kopf steht.

Foto: privat

War das schon immer so?

Das letzte Getränk jener Art habe ich in bunter Vorzeit in einer Sauerländischen Schützenhalle zu mir genommen, begleitet von der Anmerkung eines Einheimischen, der diese unvergessenen Worte sprach:

"Das gibt Farbe an die Kotze."

Der Mann hatte Recht. 

Ich schenke den Schnaps meiner Kollegin.

Und euch schenke ich meine besten Wünsche für das sehr sommerliche Wochenende. 

Mit Schnaps und Kondomen. 

Oder ohne.

28. Mai 2024

Sommerglück am Stiel

Marco hat Schuld.

In unsere Sweet TV Memories WhatsApp Gruppe, die aus Marco, meinem Ex-Kollegen und Freund, meinem Bruder und mir besteht, postet er eine Langnese Werbetafel aus den 70er Jahren.


Foto: Joachim Harms/Pinterest

Ich sehe sie, und - zack - sitze ich in einer Zeitmaschine und fliege direkt in meine großen Ferien im Jahr 1979. Es sind die Sommerferien, bevor ich auf das Gymnasium komme.

Wir sind nicht verreist. Meine Eltern betreiben ein kleines Hotel im Hochsauerland, da verreist man nicht, da bereitet man den Gästen vom Niederrhein, aus dem Münsterland und Ruhrgebiet schöne Ferien. Mein Bruder und ich teilen dieses Schicksal mit den Zwillingsmädchen Christiane und Silke aus der Nachbarschaft. Auch ihre Eltern haben ein Hotel. Sogar eines mit angrenzendem Minigolfplatz.

Wenn ich die Langnese-Tafel sehe, dann denke ich an die Holzhütte am Eingang des Minigolfplatzes. Durch ein Fenster kassiert der Opa der Zwillinge die Gebühr für das Minigolfen, und manchmal kassiert auch Herr Freitag, der als Kellner im Hotel arbeitet. Ehrlich gesagt, zahlen wir ganz oft auch gar nicht, da wir zum erlauchten Freundeskreis des Hotelnachwuchses zählen. 

Am Fensterchen des Holzhauses können wir auch ein Langnese-Eis kaufen, meistens eines von den günstigen, also Capri oder Dolomiti. Wir sind so blöd und kaufen das Eis, bevor wir mit dem Spielen beginnen und haben dann keine Hand mehr frei für den Schläger, den Minigolfball und den Block, einem dunkelgrünen Plastikmäppchen, an dem man einen dunkelrosa Zettel und einen Bleistift befestigt. Auch im Nachhinein erscheint mir das Hantieren mit einem Capri zwischen den Oberschenkeln, dem Schläger zwischen den Knien oder dem Block im Mund, während wir uns an Bahn 1 aufstellen, sehr umständlich. Ich weiß noch genau, wie das Papier zum Notieren der Punkte geschmeckt hat. Meistens drücken wir das Eis einem mitspielenden Kind in die Hand. „Hier, halt mal." Wenn das Eis tropft, leckt die Freundin netterweise einmal um das Eis herum.

 

Jahnpark/Nordhessen - so ähnlich sah das damals aus

Ich bin nicht besonders gut im Minigolf. Merkwürdigerweise gelingen mir 1- Punkte-Schläge auf Bahnen, die eher anspruchsvoll sind, zum Beispiel die, auf der man den Ball oben ins Netz chippen muss. Das Geräusch beim Addieren der Punkte mit dem ziemlich stumpfen Bleistift verschafft mir regelmäßig eine Gänsehaut. 

Minigolf in Kombination mit einem Langnese-Eis ist 1979 mein kleines Sommerglück. Mein Sommerglück am Stiel. Meistens kaufe ich mir ein Dolomiti. Ich finde, die Eisleute haben das Dolomiti gut geplant, denn ich esse mich von meiner drittliebsten der drei Eissorten, Zitrone, über die zweitliebste, Himbeere, durch bis zu meiner allerliebsten Sorte: Waldmeister. Perfekt.

Eine weitere Erinnerung, die ich sofort vor Augen habe, als Marco uns das Foto von der Eistafel schickt, ist das Freibad. Das Freibad im Nachbarort mit der riesigen Wiese, dem Kinderbecken, dem Nichtschwimmerbecken und dem Schwimmerbecken mit Sprungblöcken, einem 1-Meter-Sprungbrett und einem 3-Meter-Sprungbrett, kurz Einer und Dreier genannt. Parallel zum Schwimmerbecken läuft der Bademeister hin und her und unterhält sich mit den Stammgästen des Freibades. Er trägt eine kurze weiße Hose sowie ein weißes Poloshirt und ist aufgrund seiner Outdoor-Tätigkeit sehr braun. Zwischendurch ruft er Kinder und Jugendliche zur Ordnung. Wenn der Dreier geöffnet hat, passt er besonders gut auf. Und wenn es gar nicht anders geht, greift er hart durch und wirft Störenfriede raus. Die stehen dann mit nassem Haar, im wahrsten Sinn bedröppelt, vorm dem Zaun des Schwimmbadgeländes. Es fehlt nur noch ein Schild um den Hals mit „Wir müssen draußen bleiben".

Ähnlich wie an der Holzhütte auf dem Minigolfplatz der Nachbarn, ist auch im Freibad ein Fensterchen das Tor zum Glück. Neben den Umkleiden befindet sich ein Raum mit Küche und Fenster, durch das unter anderem die Ehefrau des Bademeisters im weißen Kittel Speisen und Getränke verkauft. Waffeln, Bockwürstchen mit Senf, Bier, Limo, und dann noch sehr viel Kleinteiliges der Firma Haribo: Colafläschchen, Teufel, weiße Mäuse, Schnuller. Und Schleckmuscheln gehören auch zum Sortiment. Ich möchte diese Frau und ihre Kolleginnen nachträglich lobpreisen für ihre Engelsgeduld.Mit 40 Pfennig in der Hand und in ein Handtuch gewickelt, lasse ich mir eine Tüte zusammenstellen, deren Inhalt kostentechnisch mein Budget nicht übersteigen darf.

Das Verkaufsgespräch mit der Frau des Bademeisters (Brille, Maria-Hellwig-Frisur) verläuft ungefähr so:

„Äh...hallo."

„Ja, hallo. Was möchtest du denn?"

„Hm. Was kosten denn die Colafläschchen?"

„Fünf Pfennig."

„Hm. Dann nehme ich drei Colafläschchen. Und die Schleckmuschel, was kosten die?"

„Zwanzig Pfennig."

Ich versuche, im Kopf zu berechnen, wieviel Geld ich noch übrig habe, wenn ich eine Schleckmuschel kaufe. Das verläuft ähnlich umständllich wie das gleichzeitige Eisessen und Minigolfspielen bei den Nachbarn.

„Was kosten die Schnuller?"

„Zehn Pfennig."

„Dann nehme ich eine Muschel und einen Schnuller. Ach, nee, ich glaube, da reicht mein Geld nicht." 

„Wieviel hast du denn?"

„40 Pfennig."

„Dann nimm doch einen Teufel und eine Muschel."

„Hm, na gut."

Und während sich die Schlange hinter mir inzwischen einmal rund um das Schwimmbecken formiert hat, geht hinter einem Hochsauerländischen Hügel die Sonne unter. Zumindest hat es sich für die anderen tropfenden Wartenden bestimmt so angefühlt.

Viel schneller und genauso lecker läuft die Eisbestellung aus dem Langnese-Sortiment. Manche Eisabbildungen auf der Werbetafel sind durchgestrichen. Je nach Sorte ist das für mich eine mittlere Katastrophe, aber wenn Dolomiti ausverkauft ist, geht notfalls auch ein Capri oder Cola-Eis. Mit dem Einkauf schlendere ich zurück zum Platz, wo meine Decke und meine Freundinnen liegen. Ich lege mich auf den Rücken, esse mein Eis, wobei ich niemals hineinbeiße. Es ist mir bis heute ein Rätsel, wie jemand ohne Ganzkörpergänsehaut in ein Eis beißen kann. 

Ich liege da und gucke, wie die Wolken ziehen. Bis irgendjemand kommt und fragt, ob ich Federball spielen will. Natürlich will ich. Und natürlich habe ich wieder das Problem, dass Federballspielen mit Eis in der linken Hand nicht gut geht. 

Es ist ein winziges Kinderproblem.

Genauso wie Jungs, die einen mit Juckpulver aus einer Hagebuttenfrucht ärgern.

Oder Sonnenbrand auf den Schultern.

Oder ein Wespenstich am Fuß.

Es ist jedoch nichts, was meine Stimmung an diesem Sommertag im Freibad trüben kann.

1979 fühlt sich alles meistens leicht an.

Und das Sommerglück hat einen Stiel.

 

 

 

 

 

 

 


 

 

9. Mai 2024

Mechthild macht die Plätze klar

Ich bin ein rücksichtsvoller Mensch. 

Deshalb mache ich irre Dinge, zum Beispiel lasse ich Leute aus Zügen aussteigen, bevor ich einsteige.

Der Intercity Richtung Gera hält am Gleis 17. Neben mir am Gleis steht eine Gruppe Radfahrer, und zwar eine von der älteren agilen Sorte. Frauen und Männer in Funktionskleidung, deren bereits Anfang Mai stark gebräunte Haut von zahlreichen Radtouren und/oder Gartenarbeit zeugt. 

Der Knopf neben der Waggontür springt von rot auf grün. Ein Radfahrer ruft mir zu: „Jetzt!" und nickt heftig, im Sinne von „Nun mach schon." Ich drücke den grünen Button, die Tür öffnet sich. Es erscheint eine lächelnde Zugführerin. Der delegierende Senior hebt sein Rad an und versucht, die Schaffnerin zurückzudrängen.

„Einen kleinen Moment, bitte“, sagt sie.

„Und ich würde auch noch gern einsteigen“, sage ich. Wobei ich durchaus Verständnis dafür habe, dass es aufregend ist, in einem kleinen Zeitfenster acht Trekkingräder in einem Fahrradabteil unterzubringen.

Ich gehe durch das Fahrradabteil zu einem freien Sitzplatz am Fenster. Aus dem Radabteil hinter mir höre ich Kommandos von dem Senior, der mich vorhin hieß, die Zugtür zu öffnen. Kurz frage ich mich, ob die Bezeichnung Rädelsführer auf einer ähnlichen Gruppentour entstanden ist.

In meinem Großraumwagen übernimmt unterdessen ein weibliches Mitglied der Radtruppe das Regiment. Sie stellt fest, dass sich die reservierten Sitzplätze für die Senioren in einem Wagen am anderen Ende des Zuges befinden, ganz weit weg von den Rädern. Das geht ja nicht!

„Dann müssen wir uns hier Plätze suchen.“

Sie rennt im Gang des ICs auf und ab wie ein nervöses Kaninchen und kontrolliert die Platzanzeigen oberhalb der Sitze.

Ich nenne sie Mechthild. Sie sieht aus wie eine Mechthild, die ich kenne. Die Frau Mitte 60 ruft sehr laut: „Hier Anne, hier sind noch zwei Plätze, dahinten auch, ja, da am Fenster. Gebt mir irgendwas, mit dem ich die Sitze belegen kann.

Ich kann mir Mechthild prima am Pool eines Urlaubshotels vorstellen und murmele: „Handtücher wären gut.“

„Los, schnell! Ich brauche was, womit ich die Plätze reservieren kann.“ Sie hechtet zum Fahrradabteil, in dem die Männer die Räder befestigen. „Klaus, Klaus, gebt mir mal eure Helme und die Jacken.“ Mechthild rennt hin und her, dass ihre Brille wackelt. Ihr graues Haar klebt ihr im Nacken. Ein Mann, ich nehme an, es handelt sich um Klaus, trottet ergeben hinter Mechthild her und überreicht ihr diverse Reservierungsutensilien.

Er hat die Ruhe weg.

Mechthild ist immer noch ganz aufgeregt.

Der IC fährt los. Die restlichen Teilnehmer der Radgruppe betreten ebenfalls den Großraumwagen.

„Ich habe hier, hier und da drüben reserviert“, vermeldet die Seniorin nicht ohne Stolz. Es klingt ein bisschen so, als habe sie eine Schlacht gewonnen. Sie nimmt die beschlagene Brille von ihrer Nase und wischt sich mit dem Handrücken über die Stirn.

Ich schüttele mit dem Kopf, verdrehe kurz die Augen und schaue aus dem Fenster auf vorbeiziehende Häuserreihen.

Dann fällt mir auf: Das hätte ich sein können!

Diese hektische Fürsorge, die hohe aufregte Stimmlage, die Entspannung, die erst eintritt, wenn alle sitzen und zufrieden sind.

Die Erkenntnis trifft mich plötzlich wie ein Blitzschlag:

Ich bin eine Mechthild.

Besorgt, aber übergriffig.

Nett, aber nervig.

Ich bin eine Mechthild.

Erschreckend.

Den Rest meiner Bahnfahrt überlege ich, wie ich zukünftig damit umgehen soll.

Ich bin zu keinem Ergebnis gekommen.